Zum Buch:
Das Vertrauen in die gewählten ParlamentarierInnen und in die repräsentative Demokratie insgesamt ist brüchig geworden, während antiparlamentarisches Gedankengut immer lauter wird. Viele Menschen bezweifeln, ob PolitikerInnen noch andere Interessen als ihre eigenen vertreten und die Belange und das Wohlergehen der BürgerInnen noch berücksichtigen. Der rasante Mitgliederschwund bei den etablierten Parteien und das Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen ist ein Symptom der Unzufriedenheit. Die sogenannten “Wutbürger” sorgen durch “Denkzettel”-Wahlentscheidungen für eine Fragmentierung der parlamentarischen Verhältnisse: in Belgien dauerte es infolgedessen sagenhafte 541 Tage, bis nach den Parlamentswahlen 2010 eine regierungsfähige Koalition gebildet werden konnte. Kurz gesagt, die repräsentative Demokratie steckt in einer tiefen Krise.
David van Reybrouck attestiert in seinem informativen und verständlich geschriebenen Buch ein europaweites “Demokratiemüdigkeitssyndrom” und macht unseren “Wahlfundamentalismus” dafür verantwortlich. Er selbst hält die allein auf Wahlen begründete politische Repräsentation für nicht demokratisch. Diese Position vertritt er sehr überzeugend in seinem Essay. Van Reybrouck schlägt als Gegenmittel vor, unsere “elektoral-repräsentative” Demokratie um ein partizipatorisches Element zu erweitern: durch Losverfahren bestimmte BürgerInnen sollten auf Zeit durch ihre Mitarbeit in den Gremien für ein besseres Gleichgewicht zwischen Regierenden und Regierten sorgen – eine “aleatorisch-repräsentative Demokratie”. In einem solchen “bi-repräsentativen System” sieht van Reybrouck einen Ausweg aus der Krise.
Der provokante Essay besteht aus vier Teilen: “Symptome”, “Diagnosen”, “Pathogenese” und “Therapie”. In den ersten zwei Kapiteln nimmt der Autor eine Bestandsaufnahme und die notwendigen Begriffsklärungen vor. Im dritten Kapitel stellt er in einem historischen Exkurs die Losverfahren der bürgerlichen Selbstregierung aus Antike und Renaissance vor. An dieser Stelle erläutert er auch, warum sich das “aristokratische Prinzip” im Zuge der französischen und amerikanischen Revolution letztendlich durchgesetzt habe bzw. durchgesetzt worden sei. Spannend wird es im Schlusskapitel, in dem der Autor Überlegungen zur Rettung unserer Demokratien anstellt. Er zieht bereits erfolgte, aber höchstwahrscheinlich nur wenigen Interessierten bekannte Referenden und Gesetzgebungsverfahren unter Beteiligung ausgeloster BürgerInnen in Irland, Kanada, Island und den Niederlanden als exemplarisch heran. Diese hätten nicht nur zu überraschenden Ergebnissen geführt, sondern seien auch der beste Beweis dafür, dass per Los ausgewählte Menschen nicht nur in der Lage seien, verantwortungsbewusst und rational zu entscheiden; sondern auch ein sinnvolles Korrektiv zur alleinigen Entscheidungsmacht der gewählten PolitikerInnen darstellten.
Mein Resümee: Der engagierte und kluge Text ist eine wichtige Diskussionsgrundlage. Ich empfehle diesen Denkanstoß allen, denen an einer Verbesserung der demokratischen Zustände gelegen ist; nicht zuletzt auch besorgten PolitikerInnen, die dieser Essay ermutigen kann, wieder mehr Demokratie zu wagen!
Ralph Wagner, Ypsilon Buchladen & Café, Frankfurt