Zum Buch:
Das womöglich früheste christliche Dokument einer Masse in Bewegung stammt von der spanischen Nonne Egeria, die um 380 n. Chr. an einer Prozession von Bethlehem nach Jerusalem teilnahm und sich hinterher in ihrem Tagebuch über das langsame Schritttempo der singenden Mönche echauffierte. Doch bezeugen etliche schriftliche und bildliche Darstellungen aus Mesopotamien und Ägypten, dass die Geschichte der Menschenzüge bereits mit dem Aufkommen antiker Hochkulturen begann. Ob in Demokratien oder Diktaturen: Das gemeinsame Gehen galt stets dem körperlichen Ausdruck von Meinung und Drohung. Eine Menschenmasse in Bewegung, so der Autor, ist daher ein unschlagbares Medium.
In seiner wunderbar erhellenden Darstellung schlägt er einen weiten Bogen von der Antike bis hin zur Gegenwart und kommt zu dem Ergebnis, das Gehen in Massen bekräftige unter den Menschen ein derartiges Gemeinschaftsgefühl, dass sie sich, um ihre Meinung zu äußern, nicht selten bewusst in Lebensgefahr begeben, wie etwa bei den verbotenen Protestmärschen während des Arabischen Frühlings.
Doch ob es sich nun um die Triumphzüge römischer Herrscher handelte, um christliche Bitt- und Dankprozessionen, die inszenierten Paraden der Nationalsozialisten, den Marsch der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung von Selma nach Montgomery von 1965 oder dem ersten Klimastreik der Fridays-for-Future-Bewegung 2019, an dem weltweit rund 2 Millionen Menschen teilnahmen: Es ist eine aufschlussreiche, überaus spannende Geschichte, die Karl-Heinz Göttert hier erzählt, womit auch der 457. Band der anderen Bibliothek wieder ein Garant ist für das Besondere.
Axel Vits, Köln