Zum Buch:
Es war eine Kneipenidee, die den englischen Schriftsteller Paul Scraton dazu brachte, in zehn Etappen 180 km rund um Berlin zu laufen. Die Sehenswürdigkeiten, Szeneviertel, die Ausflugsziele und Kulturstätten der Stadt sind ihm, der seit fünfzehn Jahren dort lebt, bestens vertraut. Jetzt interessieren ihn die Gegenden, durch die man sonst nur im Auto oder Zug so schnell wie möglich hindurchfährt, um von einem Ort zum anderen zu gelangen: die Randgebiete, das Grenzland zwischen Berlin und Brandenburg. Wo nicht mehr Stadt ist und noch nicht Land.
Den ersten „Spaziergang“, wie Scraton seine kilometerlangen Wanderungen nennt, beginnt er am 23. Januar im Norden Berlins, an der Greenwichpromenade in Tegel. Von dort umrundet er die Stadt im Uhrzeigersinn. Er läuft durch den Osten, über Ahrensfelde, Köpenick, weiter in den Südwesten zur Gropiusstadt, über Wannsee nach Spandau und zurück nach Tegel. Durchquert das ehemalige Staatsgebiet der DDR und, im Westen der Stadt, das Gelände, in dem sich DDR und das eingeschlossene Westberlin berührten. Wandert durch die Gegenden, die man sonst nur im Auto oder Zug so schnell wie möglich durchquert: die Randgebiete, das Grenzland zwischen Berlin und Brandenburg. Wo nicht mehr Stadt ist und noch nicht Land.
Scraton läuft durch trostlose Ansammlungen von Baumärkten, Outlets, Autohäusern und Brachen, entlang an Vorortsiedlungen, durch Wald, ans Wasser. Den Mauerweg entlang, durch gigantische Hochhaussiedlungen und vorbei an ehemaligen Zwangsarbeiterlagern. Er durchstreift Villengegenden, geht am Wannsee entlang zur Pfaueninsel. Er beobachtet mit genauem Blick und beschreibt, was er sieht. Schnörkellos, ohne zu bewerten, und wach für das, was die Landschaften, Ansiedlungen und Gebäude erzählen.
Seine wichtigste Erkenntnis aus diesem Unternehmen ist: Jeder Ort hat eine Vergangenheit, und wenn man neugierig genug ist, findet man selbst in den ödesten Ecken überall Geschichten – kollektive und individuelle. Selbst Berlinkundige dürfte darüber staunen, was er dabei entdeckt. Sein Buch ist aber auch für Ortsfremde spannend zu lesen. Der Autor gewinnt dem, was der Architekt Thomas Sievert „Zwischenstadt“ genannt hat – dem Aufgelassenen, Flüchtigen, sich Wandelnden – einen eigenen Reiz ab, der dem von gestalteten Parklandschaften oder hermetisch von allen Blicken abgeschotteten Wassergrundstücken in nichts nachsteht. Paul Sctatons „Spaziergänge“ sind vielleicht nicht so abenteuerlich wie Wolfgang Büschers Wanderung Berlin-Moskau oder so spektakulär wie die wilden Landschaften bei Robert McFarley. Sie sind ein eigenes Erlebnis und schärften den Blick für das Gewöhnliche nahe der eigenen Haustür – denn „Zwischenstadt“ ist überall.
Ruth Roebke, Bochum