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Am 12. Januar dieses Jahres war es genau zehn Jahre her, dass Haiti von einem Erdbeben der Stärke 7,5 erschüttert wurde, das über 300 000 Menschenleben forderte. In der ohnehin schwachen Infrastruktur des Landes brauchten Rettungskräfte oft Tage, um zu den Opfern vordringen und erste Hilfe leisten zu können. Bis heute gibt es in Port-au-Prince riesige Bereiche, die in Trümmern liegen. Trotz Hilfszusagen in Milliardenhöhe haben sich die traumatisierte Bevölkerung und die ohnehin fragile Wirtschaft des Inselstaats nie von dieser Naturkatastrophe erholt.
James Noël, der zu den wichtigsten Autoren Haitis zählt, hat sich nach mehreren Lyrikbänden in seinem ersten Roman Was für ein Wunder mit den Geschehnissen von 2010 auseinandergesetzt. In einem verstörend intensiven Rückblick bringt er unterschiedliche Gesichter des Schreckens zusammen. Stimmen von Überlebenden, die das Erdbeben beim Spaziergang, auf der Toilette, oder bei irgendeiner anderen alltäglichen Verrichtung überraschte, kommen zu Wort. Und immer wieder durchdringt heftige Kritik an Hilfsorganisationen Noëls Zeilen, Kritik auch an UNO-Soldaten, die „mit geschwollener Brust, Blauhelm-Reisepass, Blauhelm-Koffer, ihrem Riesenkopf und den klotzigen Schuhen“ ins Land kamen und zusätzlich zu den Hilfsgütern die Cholera einschleppten, die Monate nach dem Beben weitere Tausende von Opfern forderte.
Neben die beklemmenden Bilder des Erdbebens stellt der Autor die stark sexuell geprägte Beziehung des Protagonisten zu Amore, einer Italienerin, die zum Zeitpunkt der Katastrophe gerade bei einem Trinkwasser-Projekt in Haiti arbeitet. Amore ist die Fremde, die als Freiwillige für unterschiedliche Organisationen arbeitet, nicht aus diesem Land stammt und ihm vielleicht gerade deshalb helfen kann, sich mit den Überresten seines Landes vertraut zu machen. Sie steht für das Überleben. Noël verlässt mit ihr die Trümmer seiner Heimat, fliegt mit ihr nach Rom und kehrt erst Jahre später zurück.
Manche Kapitel des kurzen Büchleins ähneln kunstvollen Wortspielen, andere eher Fieberträumen. „Die Erde hat linkerseits gebebt. Die Erde hat rechterseits gebebt. […] Ich fand keine Worte, als es bebte. Ich nahm den Tod als Musiker auf. Ich summte vor mich hin. Um mich herum hörte ich das Universum in sich zusammenstürzen, meine Stadt war vom Schlag direkt ins Herz getroffen […] Überall Staub, schutzloser, kurzatmiger Staub.“
Kulturell geprägte Voodo-Vorstellungen und Begriffe aus dem französischen Kreol werden von der Übersetzerin Rike Bolte an einigen Stellen mit Fußnoten versehen und so gekonnt übersetzt, dass sie sich elegant in den Sprachfluss einfügen. Im Vorwort der Übersetzerin erfahren wir aber auch, was wir manchmal bei übersetzter Literatur vergessen, nämlich, dass bestimmte Bereiche kultureller Vorstellungswelten zuweilen unübersetzbar bleiben.
Noëls poetische Verarbeitung des haitianischen Traumas fordert seine LeserInnen auf unterschiedlichen Ebenen heraus. Der Roman Was für ein Wunder, der mit seinem so positiv anmutenden Titel in die Irre führen kann, wurde nicht umsonst vor wenigen Tagen mit einem der Internationalen Literaturpreise ausgezeichnet, die seit 2009 vom Haus der Kulturen der Welt und der Stiftung Elementarteilchen in Berlin verliehen werden. Neben Noël und seiner Übersetzerin wurden in diesem Jahr fünf weitere Autor*innen und ihre jeweiligen Übersetzer*innen ausgezeichnet (https://www.hkw.de/de/programm/projekte/2020/internationaler_literaturpreis_2020/start.php)
Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt