Zum Buch:
Eine junge Frau hat das Gefühl, keinen Platz in der Gesellschaft zu haben, und sucht sich selbst ihren Platz – in einem alten Schrank. Eigensinnig, traurig und herrlich durchgeknallt ist Tereza Semotamovás Roman Im Schrank.
Ohne Arbeit, ohne Mann und ohne Wohnung kehrt Hana aus Deutschland nach Prag zurück. Überall sieht die junge Frau Anfang Dreißig Forderungen an sich gestellt, die sie nicht erfüllen will oder kann: gefälligst ein normales Leben zu führen, einen soliden Job anzunehmen, einen normalen Mann zu heiraten und ein normales Kind zu bekommen. Nach einigen missglückten Anpassungsversuchen fällt es Hana schwer, weiter am Treiben in der Stadt und am Alltag ihrer Eltern, ihrer Schwester und ihrer Freundinnen teilzunehmen. Sie sehnt sich nur nach Ruhe und Einsamkeit, nach einem Ort, wo sie nicht auf ihre Unzulänglichkeit und ihr Scheitern hingewiesen wird, wo ihr keine besorgten oder fordernden Fragen gestellt werden und wo sie niemandem Rechenschaft schuldet. Als ihre Schwester einen alten Schrank ausrangiert, nutzt sie kurzerhand die Gelegenheit, hievt ihn mit Mühe und Not in eine Ecke im Keller des Mehrfamilienhauses, in dem die Schwester wohnt, und richtet sich in diesem Schrank ein. Ihre Ruhe findet sie da, aber auch eine Menge Schwierigkeiten (wie der Schwester aus dem Weg gehen? Wo eine Toilette und einen Waschplatz finden?). Aber sie ist zufrieden, der für sie unerträglichen Situation entronnen zu sein, entweder Freundinnen oder Verwandten zur Last zu fallen oder sich, um eine Bleibe zu bekommen, mit einem Mann einlassen zu müssen.
Die Enge des Schranks eröffnet Hana die Möglichkeit, sich ins Weite zu fantasieren und einen Überblick über ihr bisheriges Leben zu gewinnen. Nach und nach rekapituliert sie ihr Leben, das sie in den Schrank geführt hat: ihre unglückliche Beziehung zu einem Mann in Deutschland, ihre unterbrochene Karriere als Bildhauerin, die Ambivalenz zwischen Vertrautheit und bedrückender Enge im Verhältnis zu ihren Eltern. Der Leserin macht sie es mit ihrer kruden, assoziativen Erzählweise nicht leicht. Genau darin liegt aber das Lebendige an dieser Erzählung von den aus Sicht der Protagonistin irrsinnigen Zumutungen der Welt außerhalb des Schranks, in der es normal ist, jahrelang schweigend die Launen des Partners, die muffigen Wohnzimmer, die unerreichbaren Erwartungen der Eltern, die unausgesprochenen Vorwürfe auszuhalten. Hana ist eigen, aber nach einer langen Zeit der Anpassung hat sie nun beschlossen, dass ihr diese Eigenheit zusteht, denn sie schadet niemandem. Das ist kein einfacher Prozess, aber der Schrank hilft ihr dabei. Eigenwillig setzt sie der in ihren Augen unsinnig umtriebigen Welt eine widerständige Passivität entgegen, ohne dabei Rücksicht auf ihre eigene Bequemlichkeit zu nehmen. Aus ihrer Unfähigkeit zum Handeln wird so eine bewusste Passivität gegen die Phrasen des Alltags. Eingewoben ist dieses Thema des störrischen Rückzugs in zahlreiche Anspielungen auf die tschechische Literatur, die die Übersetzerin in einem Glossar am Ende des Buchs versammelt hat. Diese Variation über das Thema der widerständigen Passivität ist lakonisch, grotesk, mal komisch, mal melancholisch, aber niemals wehleidig und macht Semotamovás Roman zu einer fantastischen Lektüre.
Alena Heinritz, Münster