Zum Buch:
Zuallererst sei gesagt, was der Titel der deutschen Übersetzung vielleicht verschleiert: Das Buch ist klug, spannend, grotesk komisch und zugleich unheimlich. Im ukrainischen Original erschien der Roman 2002, also noch vor Orangener Revolution, Majdan-Bewegung und der Annexion der Krim, unter dem Titel Rivne/Rovno (die Wand). Scheinbar ein Roman. Dieser Titel deutet bereits die Ambivalenz an zwischen Dystopie und Realität, mit der in dem Roman gespielt wird. Hilfreich zum Verständnis des Romans in seinem politischen Kontext ist das Vorwort des Schriftstellers und Freund des Autors, Juri Andruchowytsch.
Die Handlung spielt in einer geteilten Ukraine: der Ostteil, die Sozialistische Republik Ukraine (SRU), steht unter der Herrschaft des kommunistischen Russlands, und der Westteil, die Westukrainische Republik (WRU), wird von der NATO „beschützt“, bzw., so heißt es in der Variante der SRU, wurde von der NATO „okkupiert“. Hier pflegt man einen europäisch-westlichen Lebensstil. Schauplatz der Handlung ist die Stadt Riwne bzw Rowno, wie die Stadt im Osten heißt. Riwne ist durch eine Mauer geteilt, und der Westsektor, der zur WRU gehört, ist umgeben von der Sozialistischen Republik. Die Handlung spielt an einem einzigen Tag, und das – das wird dem Leser immer klarer – ist nicht zufällig der 17. September, Jahrestag des Einmarsches der Roten Armee in Polen 1939, der die Vereinigung der Ukraine unter kommunistischer Vorherrschaft bedeutete.
Im Mittelpunkt steht der Protagonist Schlojma Ezirwan. Mal wird über ihn aus der Außenperspektive erzählt und mal spricht er selbst von sich in zweiter Person. Ezirwan ist ein gefeierter Schriftsteller, und am Tag der Handlung soll sein neuestes Stück uraufgeführt werden. Die Premiere wird mit Spannung erwartet, denn die Handlung des Stückes wurde geheim gehalten und verspricht, aufsehenerregend zu sein. Just an diesem Tag jedoch bekommt Ezirwan plötzlich die Erlaubnis, für nur diesen einen Tag in den Ostteil der Stadt zu fahren. Diese Gelegenheit kann er sich nicht entgehen lassen, hat er doch seit dem plötzlichen Mauerbau vor fünf Jahren, als er sich gerade zufällig im Westteil aufhielt, seine Verwandten nicht sehen können, die im Ostteil leben.
Schnell wird Ezirwan allerdings klar, dass ihm die Erlaubnis zum Grenzübertritt nicht gegeben wurde, um Familienbesuche abzustatten. In der Wohnung seiner Mutter wird er von Geheimdienstmitarbeitern empfangen und zu einer Versammlung des Schriftstellerverbandes im „Haus der geistigen Arbeit des Gebietskomitees der kommunistischen Partei der SRU Rowno“ gebracht. Da er, anstatt den langen, linientreuen Reden zuzuhören, viel lieber spazieren gehen würde, um in Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend zu schwelgen, flieht er durch ein Fenster. Lange kann er den Spaziergang aber nicht genießen, denn er wird nicht nur vom Sicherheitsdienst verfolgt und den Strahlen einer Maschine ausgesetzt, die das Denken des Kollektivs unifiziert, sondern es stellen sich ihm auch ganz andere, profanere Hindernisse in den Weg.
Lange braucht Ezirwan, um herauszufinden, was der Grund für seinen Aufenthalt in der SRU ist, und als er von seinem Auftrag erfährt, wird ihm plötzlich bewusst, dass sein Einfluss auf das Schicksal seiner Stadt nun doch größer ist als je gedacht. Zugleich aber würde er sehr gut zu seinem Stück passen, das am Abend uraufgeführt wird. Realität und Fiktion verschwimmen ebenso wie Gegenwart und sowjetische Vergangenheit. Viel mehr als eine platte Satire auf die sowjetische Geschichte der Ukraine ist dieser Roman eine feinsinnige Reflexion über die diskursiv ausgetragene Feindschaft zwischen West und Ost, die zuweilen auch gefährlich physisch werden kann.
Alena Heinritz, Graz