Zum Buch:
Elizabeth Strout hat die Geschichte von Olive Kitteridge, die sie 2008 in Mit Blick aufs Meer erfunden hat weitererzählt.
Vor gut zehn Jahren hat die amerikanische Autorin Elizabeth Strout einen Roman geschrieben, der im Original Olive Kitteridge heißt (der deutsche Titel war: Mit Blick aufs Meer). Für das Buch bekam sie den Pulitzer Preis. Olive, eine ebenso bärbeißige wie sensible Person – strenge Lehrerin, grobe Ehefrau eines enervierend gutmütigen Mannes und herrische Mutter – war meist Haupt-, in manchen Kapiteln auch nur Randfigur in dem Episodenroman über sie und das kleine Städtchen Crosby an der Küste von Maine.
In dem neuen Roman Olive, again, auf Deutsch leider Die langen Abende begegnen wir der Heldin wieder. Olive ist in der Zwischenzeit Witwe, genauso schlecht gelaunt wie ehedem. Sie beginnt eine Beziehung mit einem dickbäuchigen Witwer, einst schlanker Professor in Harvard, der genau so einsam ist wie sie.
Olive und Jack ziehen mutig zusammen und heiraten. Wenn sie sich zanken, sehnen sie sich mit fast kindlichem Trotz nach ihren früheren Partnern. Meist allerdings sind sie zufrieden, ja sogar glücklich, zusammen zu sein. Aber Strout erzählt hier keine Schmonzette über Liebe unter Senioren. Vielmehr erzählt sie über die Möglichkeit des Liebens, wenn wir älter werden. Und die Möglichkeit uns zu ändern – auch wenn wir alt sind. Olive lernt, eigene Fehler zu sehen, lernt, weniger garstig zu denken und zu sein – jedenfalls versucht sie es.
Zugleich porträtiert Strout erneut die Kleinstadt Crosby in Maine. Sie erzählt viele Geschichten von sehr unterschiedlichen Menschen. Manchmal taucht Olive nur am Rande auf. Strout erzählt von Kayley, der Achtklässlerin, die putzen geht, um Geld dazu zu verdienen, und anfängt zu verstehen, was Begehren ist. Sie erzählt von Cindy, die an Krebs erkrankt ist und deren Mann und Söhne so tun, als hätte sie eine Grippe. Mit ihr redet Olive auch über das Sterben und den Tod, ohne sie zu belügen.
Ausgerechnet die ruppige Olive, der viele Leute im Städtchen aus dem Weg gehen, ist da, wenn Menschen vom Unglück bedroht werden.
Wenn ich den Roman und seine zentrale Figur Olive Kitteridge beschreibe, gerät es schnell zu einer pathetischen Rede, und das ist ziemlich erstaunlich, weil diese Olive eigentlich das Gegenteil von pathetisch ist: Sie ist ungemein biestig, ohne jede Verbindlichkeit, sie hat wenig Freundlichkeit, sie sagt, was sie denkt, ohne Rücksicht auf Benehmen und Verhaltensnormen. Diese Ehrlichkeit ist oft brüskierend, unfreundlich und gemein. Aber Olive handelt nicht so, weil sie jemanden verletzen will oder jemand anderen wegen seiner Andersheit verurteilt. Vielmehr greift sie ein, weil ihr das Handeln und das Benehmen ihrer Mitbürger*innen auf den Wecker fällt, weil sie die verschwiegenen Probleme wahrnimmt. Sie formuliert „Wahrheiten“ über Andere, spricht mit und über Andere, so offen, wie es sich nicht gehört. Olive ist unangepasst in ihrer kleinen Welt, in dem engen und verlogenen Kosmos einer Kleinstadt, weil sie so ist, nicht weil sie damit etwas anderes zeigen will. Olive Kitteridge ist eine unsympathische Heldin, die liebenswert ist. Und das ist die großartige Leistung von Elizabeth Strout.
Dieser Roman macht froh und ist tröstend, während er gleichzeitig ohne Beschönigung die Schrecken des Miteinanders erzählt.
Barbara Determann, Autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt