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Im Menschen muss alles herrlich sein

Autor
Salzmann, Sasha Marianna

Im Menschen muss alles herrlich sein

Untertitel
Roman
Beschreibung

Auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2021

Sasha Marianna Salzmanns Roman beginnt mit einem Vorspiel, irgendwo im Osten auf einem Feld vor einer Plattenbausiedlung. Vier Frauen: Zwei Mütter, die weinen, und zwei Töchter – die eine liegt zusammengeschlagen am Boden, die andere ist gerade dazu getreten. Wie es zu dieser Szene kam, das erfährt die Leser*in im Laufe des beeindruckenden Romans Im Menschen muss alles herrlich sein. Der Titel, eine russische Redensart, zitiert Anton Tschechows Onkel Wanja. Eine sehr zynische, beinahe grausame Forderung angesichts des realen Lebens in der Sowjetunion, in dem nichts herrlich ist, weder im Menschen noch sonstwo.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Suhrkamp Verlag, 2021
Seiten
384
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-518-43010-1
Preis
24,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Sasha Marianna Salzmann ist Theaterautor:in, Essayist:in und Dramaturg:in. Für ihre Theaterstücke, die international aufgeführt werden, hat sie verschiedene Preise erhalten, zuletzt den Kunstpreis Berlin 2020. Ihr Debütroman Außer sich wurde 2017 mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung und dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Er ist in sechzehn Sprachen übersetzt.

Zum Buch:

Sasha Marianna Salzmanns Roman beginnt mit einem Vorspiel, irgendwo im Osten auf einem Feld vor einer Plattenbausiedlung. Vier Frauen: Zwei Mütter, die weinen, und zwei Töchter – die eine liegt zusammengeschlagen am Boden, die andere ist gerade dazu getreten. Wie es zu dieser Szene kam, das erfährt die Leser*in im Laufe des beeindruckenden Romans Im Menschen muss alles herrlich sein. Der Titel, eine russische Redensart, zitiert Anton Tschechows Onkel Wanja. Eine sehr zynische, beinahe grausame Forderung angesichts des realen Lebens in der Sowjetunion, in dem nichts herrlich ist, weder im Menschen noch sonstwo.

Der Roman gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil spielt in der späten Sowjetunion, dann in der unabhängigen Ukraine. Salzmann erzählt aus der Perspektive des Kindes Lena, die in armen Verhältnisse aufwächst. Kindheit und frühes Erwachsenenleben erlebt sie in einer Gesellschaft, die von Bespitzelung, Korruption, Drill, Enge und Mangel geprägt ist. Die Geschichte des Helden Pawlik Morosow, die Lena im Pionierlager erzählt wird, beschreibt den Geist dieser Zeit präzise: der Junge, der seinen Vater anzeigte, weil er Getreide für die Familie versteckt hatte. Der Vater wurde für dieses Vergehen deportiert und ermordet, daraufhin ermordete der Großvater den Jungen. In der sowjetischen, stalinistischen Lesart ist dieser Junge den Heldentod gestorben und sollte Vorbild für die jungen Pioniere sein.

In den 90er Jahren ändern sich mit Gorbatschow die politischen Koordinaten, die „Fleischwolfzeiten“ beginnen, wie Salzmann diese Zeit nennt. Die Ukraine wird unabhängig, aber die soziale Lage wird nicht besser. Der Graben zwischen Arm und Reich wird sichtbarer, die Verhältnisse offen brutaler. Lena wird eine erfolgreiche Ärztin, genauso korrupt wie die anderen. Sie wird schwanger von einem Mann, den sie liebt, der sie aber verlässt. Sie heiratet einen jüdischen Freund, die Leser*in wird nie erfahren, ob Lena diese verletzende Liebesgeschichte je weitererzählt hat, ob die Tochter erfährt, dass ihr Vater nicht ihr biologischer Vater ist. Die Familie kann das Land verlassen, sie kommen als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland, landen in Jena. Hier trifft Lena die zweite Hauptfigur des Romans, Tatjana. Auch sie hat aus Angst die Ukraine verlassen. Sie hat gerade eine Tochter geboren, ist allein und mittellos. Lena hilft ihr und sorgt für sie. Sie werden Freundinnen.

Die Töchter Edi und Nina wachsen in Deutschland auf, die Beziehungen zu ihren Müttern sind gestört, es gibt keine wechselseitige Wahrnehmung und kein Verstehen. Es herrscht eine ungeheure Sprachlosigkeit. Nina, Tochter von Tatjana, hat einen wiederkehrenden Traum, in dem Mütter und Töchter nackt in einer Schlange stehen. „Eine Frau steht hinter der anderen, und die Mutter der einen ist die Tochter der nächsten … mal taucht dasselbe Gesicht als Großmutter auf, mal als Kind. Dass es Mütter und Töchter sind, verstehe ich an der Art, wie sie aneinander vorbeischauen. Aber sie suchen sich. Sie suchen sich mit ihren Blicken. Mit weichgeklopften Rücken und wundgekratzter Haut stehen die Mütter vor ihren Töchtern und diese Töchter vor ihren Töchtern und können sich nicht rühren.“

Nina radikalisiert diese Traumerzählung über Mütter und Töchter noch einmal, indem sie eine andere mythische Figur, eine Ciguapa, erscheinen lässt. Die Ciguapa ist ein Mythos aus der dominikanischen Republik, eine weibliche Gottheit, deren Füße verdreht sind, die Zehen zeigen nach hinten. Sie verführt in den Wäldern Ahnungslose und frisst sie dann auf.

Für Nina ist dieses bedrohliche Wesen eine Metapher für die Unmöglichkeit mit der Mutter im Jetzt zu leben. „Sich nicht mehr vorwerfen, was war, oder beklagen, was niemals sein wird.“

Sasha Marianna Salzmann ist am Theater zu Hause, sie schreibt und inszeniert für das Theater. Dies spiegelt sich in der Sprache ihrer Romane. Ihre Sprache hat einen ungeheuren Rhythmus, ihre Sprachbilder sind gleichzeitig wie Bühnenbilder, sie schichtet die Bilder übereinander und aneinander wie auf einer Drehbühne. Salzmanns Figuren werden nicht gedeutet, sie stellt sie in den Raum, lässt sie sprechen und handeln, sie entwickelt keine Psychologie. Dieses Theaterverfahren im Roman eröffnet für die Leser*in einen weiten Raum.

Salzmann erzählt eine Migrationsgeschichte in zwei Frauen-Generationen. Die Mütter wollten das Leben ihrer Kinder retten und haben deshalb das Land verlassen, in dem sie für sich allein gut hätten weiterleben können. Obwohl sie diesen ungeheuren Schritt in das völlig Fremde, Bedrohliche und Unsichere für ihre Töchter gemacht haben, können sie keine Nähe, kein Vertrauen und keine Zugewandtheit herstellen, sie können ihren Töchtern nichts erzählen. Die Töchter können nicht fragen, sie sind auf der Suche nach einem eigenen Leben, getrennt von den Migrationsbeschädigungen ihrer Mütter. Sie tragen aber diese mütterlichen Verletzungen in sich und strengen sich an, ihnen zu entkommen. Vielleicht kann das ja irgendwann gelingen – das wünscht die Leser*in, aber so endet der Roman nicht.

Barbara Determann, auorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt