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Stern 111

Autor
Seiler, Lutz

Stern 111

Untertitel
Roman
Beschreibung

Den Leipziger Literaturpreis haben 2020 eine fliegende Ziege, eine Gruppe von Hausbesetzern und nicht zuletzt ein unglücklicher Dichter, seine unglückliche Geliebte und seine in die Zukunft vernarrten Eltern gewonnen. Alle sind aus der DDR heraus und noch nirgends angekommen. Lutz Seiler nimmt die Lesenden mit in diese verwirrende Zeit.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Suhrkamp Verlag, 2020
Seiten
528
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-518-42925-9
Preis
24,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Lutz Seiler wurde 1963 in Gera/Thüringen geboren, heute lebt er in Wilhelmshorst bei Berlin und in Stockholm. Nach einer Lehre als Baufacharbeiter arbeitete er als Zimmermann und Maurer. 1990 schloß er ein Studium der Germanistik ab, seit 1997 leitet er das Literaturprogramm im Peter-Huchel-Haus. Er unternahm Reisen nach Zentralasien, Osteuropa und war Writer in Residence in der Villa Aurora in Los Angeles sowie Stipendiat der Villa Massimo in Rom.

Zum Buch:

Den Leipziger Literaturpreis haben 2020 eine fliegende Ziege, eine Gruppe von Hausbesetzern und nicht zuletzt ein unglücklicher Dichter, seine unglückliche Geliebte und seine in die Zukunft vernarrten Eltern gewonnen. Alle sind aus der DDR heraus und noch nirgends angekommen. Lutz Seiler nimmt die Lesenden mit in diese verwirrende Zeit.

Berlin Anfang der 1990er zu erkunden, war ein Abenteuer. Erst recht für den Protagonisten Carl, der aus der DDR-Provinz in der Gegend zwischen Mitte und Schönhauser Allee gelandet ist. Eine Welt aus besetzten Häusern und Ruinen – bzw. besetzten Ruinen, die sich in diesen Jahren in Häuser verwandeln. Die Menschen, die Carl dort trifft, sind alle irgendwie am Rand, so wie diese Gegend am Rand ist zwischen den Zeiten, zwischen Ost und West, zwischen Realität und dem Übernatürlichen. Am Schluss ist die neue Ordnung auf dem Vormarsch, und Carl schaut zurück auf diese Zeit, in der er sich nicht zurechtfinden konnte. An der fliegenden Ziege lag das nicht. Sie war eine seiner verlässlichen Freundinnen. Von ihr verabschiedet er sich nach vielen Abenteuern, nach dem Verschwinden ihres Herrn Hoffi, dem Chef vom „klugen Rudel“. Das sind Leute, die einige Häuser besetzt haben und in einem davon eine Kneipe betreiben, an der Oranienburger Straße.

Der Aufbruch aus Gera war schwer für Carl. Er traute sich nicht, die Wohnung seiner Eltern zu verlassen. Sie hatten ihm aufgetragen, dort zu bleiben und darauf aufzupassen, während sie in den Westen aufbrachen, als sei das eine Wandertour, aber ohne ein Ziel ihrer Wanderung zu benennen. Carl hatte sie zur Grenze nach Westdeutschland gefahren, die gerade erst geöffnet worden war. Schließlich verließ er die Wohnung in Gera und fuhr in der eleganten russischen Limousine seines Vaters nach Berlin. Das Auto ist sein Zuhause in der ersten Zeit, Erinnerung an die Eltern und zugleich seine Einkommenssicherheit. Er nutzt es als Schwarztaxi, mit dem er orientierungslos in die entgrenzte Stadt fährt, ohne Stadtplan.

Fiebrig wegen der schweren Erkältung, die er sich im Winter geholt, immer noch ohne Wohnung, rettet ihn das Rudel, als er auf der Suche nach einem Unterschlupf in den Raum hinter der Leinwand eines Kinos gerät. Dort sitzen seine künftigen Freunde, und sie nehmen ihn auf. Die Pflege von Ragna, der Mechanikerin des klugen Rudels, und die Milch der Ziege retten ihn. Auch eine Wohnung in einer Ruine in der Rykestraße gehört zu seinem neuen Leben. Er will endlich schreiben, Dichter werden. Aber gebraucht wird seine Qualifikation als Maurer. Er hilft, den Keller in der Oranienburger Straße für die Kneipe Assel herzurichten.

Endlich findet er bei einer Kunstaktion seine unerfüllte Liebe aus der Schulzeit. Effie ist dort das Zentrum eines von ihr gestalteten Environments. Carl ist der einzige Besucher, und damit beginnt ihre dramatische und wechselvolle Beziehung, die ein wesentlicher Strang der Romanhandlung bleibt. Ebenso wie das Mühen um die Gedichte und die Freundschaft zu einigen aus dem Rudel.

Es soll nicht vergessen werden, dass auch die Geschichte der Eltern immer wieder in eigenen Kapiteln erzählt wird. Sie suchen ihren Weg in Westdeutschland, weder Carl noch die*der Leser*in erfährt, was sie eigentlich vorhaben. Ausgestattet mit Wanderschuhen, Rucksack, Regencape und Akkordeon landen sie schließlich in Gelnhausen. Dort gibt es eine aufstrebende Software-Firma, die an der Qualifikation von Carls Vater interessiert ist – jedenfalls zunächst. Und es gibt die US-Army, die gerade ihre Sachen packt. Den Kontakt nimmt Carls Mutter auf, sie lernen freundliche Amerikaner kennen.

Wie das alles zu einem Ende kommen soll, wo diese Geschichten enden? Lutz Seiler lässt die vielen Fäden immer wieder umeinanderlaufen, sie verwirren sich und ziehen doch auf ein Ziel zu. Wenn das erreicht, eine Lösung der Probleme von Carl oder Effie oder wenigstens der Eltern erreicht scheint, dann ändert sich alles wieder. Wir kennen alle die Gegend um die Oranienburger Straße. Schick ist es da heute. Und mit einem Blick in diese coole Welt endet der Roman.
Und was ist eigentlich Stern 111? Das wissen die am besten, die in den 1980er in der DDR gelebt haben.

Gottfried Kößler, Frankfurt a.M.