Zum Buch:
Das Porträt eines Mannes: aufrecht stehend, der Blick geht leicht zur Seite. Er ist vollständig bekleidet und wirkt dennoch seltsam intim durch den leuchtend roten Hausmantel, den er mit seinen Händen zusammenhält, die in manierierter Pose aus den weißen Spitzenmanschetten herausragen. Abgebildet ist hier kein Fürst aus dem 16 Jahrhundert, sondern Dr. Samuel Pozzi, Gynäkologe und Chirurg im Paris der Belle Époque, gemalt von John Singer-Sargent, einem der gefragtesten Porträtmaler seiner Zeit. Der britische Autor Julian Barnes fühlte sich von dem Bild so stark angezogen, dass er das Leben des Porträtierten zu erforschen begann.
Dr. Pozzi – trotz seines italienisch klingenden Namens Franzose – war das, was man einen “Modearzt” nannte. Er war Gynäkologe (behandelte aber auch Männer) und Chirurg; seine Patienten stammten aus den gleichen Kreisen wie denen, die Marcel Proust (den er natürlich kannte) beschrieben hat: dem Adel, den Reichen und den Berühmten. Pozzi, der aus dem ländlichen Südwesten Frankreichs stammte, hatte in Paris reich geheiratet. Die Ehe, deren anfängliches Glück nicht lange anhielt, ermöglichte es ihm, den gleichen Lebensstil wie seine Patienten zu pflegen: zu reisen, sich elegant zu kleiden, Kunst zu sammeln und ein “offenes Haus” zu führen. Wenn ihn etwas von seinem Freundes- und Bekanntenkreis, der häufig durch bizarres Verhalten, dandyhaften Lebensstil und eine hemmungslose Hingabe an gesellschaftlichen Klatsch auffiel, unterschied, dann seine Fähigkeit, mit Menschen auszukommen, ohne ständig in Streitereien, Prozesse oder Duelle verwickelt zu werden.
Manchmal fragt man sich, ob Pozzis Biographie dem Autor nicht bloß als Vehikel für eine fulminante Schilderung des Fin de Siécle dient, denn im Mittelpunkt des reich bebilderten Buches stehen – neben vielen anderen – der überspannte Graf Robert de Montesquiou (Vorbild für Huysmans Des Esseintes aus Gegen den Strich), Oscar Wilde, Sara Bernard, der berüchtigte Kritiker Jean Lorrain u.v.m.; mit anderen Worten also viele, die auch Marcel Proust als Vorbilder für die Personage seiner Recherche wählte. Sie alle sind Vertreter einer Gesellschaftsschicht, die sich in ihrer eigenen Blase mühelos zwischen nationalen Vorurteilen und europäischer Weltläufigkeit bewegte.
Barnes schreibt einen eleganten, distanziert-ironischen Stil, prallvoll mit Anekdoten und kenntnisreichen Abhandlungen zu Literatur, Malerei und Lebensart. Ihm sind die politischen Strömungen der Zeit genauso wichtig wie die Riten der Selbstdarstellung ihrer Protagonisten. Die Arbeit vieler Biographen fasst er durchaus selbstironisch in dem kurzen Satz zusammen: “Wir wissen es nicht”, und mokiert sich süffisant über deren Spekulationen und Ausschmückungen, besonders wenn es das Gefühls- und Sexualleben der beschriebenen Personen betrifft.
Dr. Pozzi hatte übrigens noch eine zweite Seite: Der “Modearzt” war ein engagierter Mediziner, der lange Jahre auch im öffentlichen Gesundheitswesen arbeitete, Vorkämpfer einer strikten Krankenhaushygiene und ein in der Fachwelt geachteter Chirurg zu einer Zeit, als es in Frankreich noch keinen einzigen Lehrstuhl für Gynäkologie gab. Es wäre interessant gewesen, aus diesem Bereich seines Lebens noch mehr Details zu erfahren – aber das wäre dann vielleicht ein anderes Buch geworden. Dem Vergnügen an diesem, vor Wissen überquellenden und dennoch im besten Sinne leicht lesbaren, Buch tut es keinen Abbruch.
Ruth Roebke, Bochum