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Der Mann im roten Rock

Autor
Barnes, Julian

Der Mann im roten Rock

Untertitel
Aus dem Englischen von Gertraude Krueger
Beschreibung

Das Porträt eines Mannes: aufrecht stehend, der Blick geht leicht zur Seite. Er ist vollständig bekleidet und wirkt dennoch seltsam intim durch den leuchtend roten Hausmantel, den er mit seinen Händen zusammenhält, die in manierierter Pose aus den weißen Spitzenmanschetten herausragen. Abgebildet ist hier kein Fürst aus dem 16 Jahrhundert, sondern Dr. Samuel Pozzi, Gynäkologe und Chirurg im Paris der Belle Époque. Dieses Bild hat den britischen Autor Julian Barnes so stark beeindruckt, dass er begonnen hat, Pozzis Leben zu erforschen. Das Resultat seiner Recherchen – Der Mann im roten Rock – ist nicht nur ein Porträt des Arztes, sondern zugleich ein faszinierendes und unterhaltsames Porträt des Fin de Siècle und der gesellschaftlichen Schichten, die es prägten – des Adels, des reichen Bürgertums und der Künstler.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Kiepenheuer & Witsch, 2021
Seiten
304
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-462-05476-7
Preis
24,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Julian Barnes, 1946 in Leicester geboren, arbeitete nach dem Studium moderner Sprachen als Lexikograph, dann als Journalist. Von Barnes, der zahlreiche internationale Literaturpreise erhielt, liegt ein umfangreiches erzählerisches und essayistisches Werk vor, darunter »Flauberts Papagei«, »Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln« und »Lebensstufen«. Für seinen Roman »Vom Ende einer Geschichte« wurde er mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet. Julian Barnes lebt in London.

Zum Buch:

Das Porträt eines Mannes: aufrecht stehend, der Blick geht leicht zur Seite. Er ist vollständig bekleidet und wirkt dennoch seltsam intim durch den leuchtend roten Hausmantel, den er mit seinen Händen zusammenhält, die in manierierter Pose aus den weißen Spitzenmanschetten herausragen. Abgebildet ist hier kein Fürst aus dem 16 Jahrhundert, sondern Dr. Samuel Pozzi, Gynäkologe und Chirurg im Paris der Belle Époque, gemalt von John Singer-Sargent, einem der gefragtesten Porträtmaler seiner Zeit. Der britische Autor Julian Barnes fühlte sich von dem Bild so stark angezogen, dass er das Leben des Porträtierten zu erforschen begann.

Dr. Pozzi – trotz seines italienisch klingenden Namens Franzose – war das, was man einen “Modearzt” nannte. Er war Gynäkologe (behandelte aber auch Männer) und Chirurg; seine Patienten stammten aus den gleichen Kreisen wie denen, die Marcel Proust (den er natürlich kannte) beschrieben hat: dem Adel, den Reichen und den Berühmten. Pozzi, der aus dem ländlichen Südwesten Frankreichs stammte, hatte in Paris reich geheiratet. Die Ehe, deren anfängliches Glück nicht lange anhielt, ermöglichte es ihm, den gleichen Lebensstil wie seine Patienten zu pflegen: zu reisen, sich elegant zu kleiden, Kunst zu sammeln und ein “offenes Haus” zu führen. Wenn ihn etwas von seinem Freundes- und Bekanntenkreis, der häufig durch bizarres Verhalten, dandyhaften Lebensstil und eine hemmungslose Hingabe an gesellschaftlichen Klatsch auffiel, unterschied, dann seine Fähigkeit, mit Menschen auszukommen, ohne ständig in Streitereien, Prozesse oder Duelle verwickelt zu werden.

Manchmal fragt man sich, ob Pozzis Biographie dem Autor nicht bloß als Vehikel für eine fulminante Schilderung des Fin de Siécle dient, denn im Mittelpunkt des reich bebilderten Buches stehen – neben vielen anderen – der überspannte Graf Robert de Montesquiou (Vorbild für Huysmans Des Esseintes aus Gegen den Strich), Oscar Wilde, Sara Bernard, der berüchtigte Kritiker Jean Lorrain u.v.m.; mit anderen Worten also viele, die auch Marcel Proust als Vorbilder für die Personage seiner Recherche wählte. Sie alle sind Vertreter einer Gesellschaftsschicht, die sich in ihrer eigenen Blase mühelos zwischen nationalen Vorurteilen und europäischer Weltläufigkeit bewegte.

Barnes schreibt einen eleganten, distanziert-ironischen Stil, prallvoll mit Anekdoten und kenntnisreichen Abhandlungen zu Literatur, Malerei und Lebensart. Ihm sind die politischen Strömungen der Zeit genauso wichtig wie die Riten der Selbstdarstellung ihrer Protagonisten. Die Arbeit vieler Biographen fasst er durchaus selbstironisch in dem kurzen Satz zusammen: “Wir wissen es nicht”, und mokiert sich süffisant über deren Spekulationen und Ausschmückungen, besonders wenn es das Gefühls- und Sexualleben der beschriebenen Personen betrifft.

Dr. Pozzi hatte übrigens noch eine zweite Seite: Der “Modearzt” war ein engagierter Mediziner, der lange Jahre auch im öffentlichen Gesundheitswesen arbeitete, Vorkämpfer einer strikten Krankenhaushygiene und ein in der Fachwelt geachteter Chirurg zu einer Zeit, als es in Frankreich noch keinen einzigen Lehrstuhl für Gynäkologie gab. Es wäre interessant gewesen, aus diesem Bereich seines Lebens noch mehr Details zu erfahren – aber das wäre dann vielleicht ein anderes Buch geworden. Dem Vergnügen an diesem, vor Wissen überquellenden und dennoch im besten Sinne leicht lesbaren, Buch tut es keinen Abbruch.

Ruth Roebke, Bochum