Zum Buch:
„Der 27. April 1973, das war der Tag, an dem wir alle weggingen. Ich. Mein Mann. Mein Vater. Meine Brüder und Schwestern. Ich war fast 20 Jahre alt. Ich war schwanger.“
An jenem Tag vor fünfzig Jahren, als ein veraltetes Dampfschiff an der Pier des von Kokoshainen umsäumten Atolls Peros Banhos anlegte, der zu einem Archipel namens Chagos gehört und inmitten des Indischen Ozeans liegt, verlor Liseby Elysé auf einen Schlag alles, was ihr lieb und teuer war. Auf Peros Banhos wurde Liseby geboren, sie wuchs dort auf, führte mit ihrer Familie ein einfaches Leben – und war glücklich.
An jenem Tag durchstreiften Britische Marinesoldaten das Dorf, trieben die Einheimischen, die bis zuvor selten einem Weißen begegnet waren, mit vorgehaltener Waffe zum Strand, gaben nur widerwillig Erklärungen ab und gestanden jeder Person lediglich zu, das mitzunehmen, was sie in der Eile zusammenraffen konnte. Der restliche Besitz sowie Haus und Hof mussten auf immer zurückgelassen werden. Die Hunde wurden allesamt erschossen.
Eingepfercht im Bauch des Dampfers dauerte die Überfahrt nach Mauritius ganze vier Tage, in denen die Kinder, Frauen und Männer unsägliches Leid erleben mussten. Einige starben an Auszehrung. Wenigen gelang die „Flucht“ ans Oberdeck, von wo aus sie sich vor Verzweiflung ins Meer stürzten. Lisebey überlebte die Tortur, verlor jedoch vor Kummer ihr erstes Kind.
Schätzungsweise 1500 Menschen wurden auf diese Weise gegen ihren Willen deportiert, und dies in einer Zeit, da sich das Britische Empire im Zuge der Dekolonialisierung das Recht der Völker auf Selbstbestimmung auf die Fahne geschrieben hatte. Doch geschah dies hauptsächlich in anderen Teilen der Welt.
Unter zunehmendem Druck der US-amerikanischen Regierung unter Präsident Nixon erklärte die einstige Kolonialmacht trotz allem Widerspruch den gesamten Archipel als „Britisches Territorium im Indischen Ozean“ und somit als Sperrgebiet, worauf die Vereinigten Staaten in kürzester Zeit einen Stützpunkt auf Chagos errichteten und somit eine Art Durchgangsort schafften, von welchem noch 2003, zu Beginn des Irak-Kriegs, täglich Kampfbomber starteten.
Als Philippe Sands, einem aufstrebenden, engagierten Anwalt für Internationales Recht, das Mandat zur Causa Chagos-Archipel angetragen wurde, besaß er nur wenige Kenntnisse über die Region, auch war ihm der Name Liseby Elysé völlig unbekannt. Im Jahr 2018 hielt seine Mandantin, die weder schreiben noch lesen kann, vor dem Gerichtshof von Den Haag ein leidenschaftliches Plädoyer für das Recht auf Menschenwürde – und Heimkehr. Zwar fiel im Jahr darauf das Urteil zugunsten der Zwangsumgesiedelten aus. Doch bis zum heutigen Tag weigert sich die Britische Regierung, diesem nachzukommen.
Neben seiner Tätigkeit als Anwalt hat sich Philippe Sands spätestens mit seinen mehrfach ausgezeichneten Büchern Rückkehr nach Lemberg und Die Rattenlinie auch als herausragender Autor einen Namen gemacht. Bezeichnend hierfür ist seine Vermengung zeithistorischen Wissens mit sprachgewandter Erzählweise.
Axel Vits, Köln