Zum Buch:
Albert Londres hat in den zwanziger Jahren Reportagen und Berichte über die französischen Afrika-Kolonien veröffentlicht und ungeschönt die Zustände der Kolonialherrschaft beschrieben. Das hat ihm von offizieller französischer Seite bitterste Feindschaften beschert. Sein Buch Afrika in Ketten, das Die Andere Bibliothek 2020 neu aufgelegt hat, ist in zwei Teile gegliedert. Schwarz und Weiß und Hätte Dante das gesehen.
Dakar! Die Stadt des Coronavirus heute oder die des Gelbfiebers vor hundert Jahren! Leere Bistros, ausgestorbene Straßen. Wo ist der Unterschied? Ein faszinierender globaler Parallelismus hundert Jahre später! Dakar 1920 oder 2020? Vor hundert Jahren gab es noch eine Hochzeit des Kolonialismus. Frankreich rühmte sich seiner zivilisatorischen Großtaten.
Bei der Lektüre des Buches entpuppt sich Frankreich, das sich als Lichtgestalt präsentierte, als zivilisatorische Großmacht, die der Welt den Weg zu Freiheit, Gleichheit Brüderlichkeit weisen wollte, als grausame Unterdrückungsmaschinerie, in der die zu „zivilisierenden NEGER“ als Untermenschen oder kindische Gemüter angesehen und zu Zwangs- bzw. Sklavenarbeit (die natürlich nicht mehr so benannt wurde) eingesetzt wurden. Die französischen Kolonisten, in der Mehrzahl kleinbürgerliche Beamtenseelen, die, von der Metropole fast vergessen, am Rande ihrer Existenz in patriotischer Treue oder im Sarkasmus ihren Dienst verrichteten, ließen ihren Frust in brutalster Weise an den Afrikanern aus, die das politische Paris lieber krepieren ließ, als Werkzeuge und Wagen zu beschaffen. (ein „Bananenmotor“ (=Neger) war schließlich billiger als ein Benzinmotor.)
Tausende kamen um, oder flohen vor der Zivilisation à la Francaise. Eins der düstersten Kapitel im ersten Teil ist die Zustandsbeschreibung bei der Kongo-Ozean-Bahn, bei der tausende Arbeiter umkamen, was die Kolonialverwaltung aber mit dem Mantel des Schweigens decken wollte. Ein Kapitel der Schande, das Albert Londres zu schaffen macht, der selbst ein paternalistischer Verfechter des Kolonialismus ist! Die Tatenlosigkeit, Lobhudelei und Großmäuligkeit der französischen Kolonialpolitik, die im Ausland längst erkannt und hämisch kommentiert wurde, war ihm zuwider.
Der Titel des zweiten Teils ist Programm: Hätte Dante das gesehen“
So tief man auch in Dantes Höllenkreise hinabsteigt, in den französischen Strafgefangenenlagern geht es noch tiefer. Wenn irgendwo das schreckliche Dante-Wort „Lasciate ogni speranza voi che entrate qui“ seine Gültigkeit hat, dann hier. Londres stellt hier eine Menschengruppe von Aufsehern und Unteroffizieren vor, die im Besitz der physischen Macht und voll Überzeugung von ihrer größenwahnsinnigen und gewalttätigen „Rechtschaffenheit“ ihre tiefsten Gemeinheiten an Wehrlosen ausleben kann.
Biribi ist das Schandwort für die Mörder-, Quäl- und „Besserungsanstalten“ allenthalben auf der von französischem „Recht“ besiedelten Kolonialwelt. Für mich war die Lektüre größte Zumutung. Ich habe sie nur mit Grauen überstanden. Es ist nur ein pars pro toto, ein kleiner Ausschnitt dessen, was unsere Gattung der Welt zumutet (wie ich fürchte, auch heute noch). Für den Leser, der hinter den Vorhang der Gutbürgerlichkeit zu schauen wagt, ist es eine entlarvende Darstellung menschlicher Abgründe, Selbstzerstörungen und Absurditäten. Wenn sie eine Facette der Dunkelwelt unseres Menschseins kennenlernen wollen, lesen Sie dieses Buch.
Notker Gloker, Heiligenberg