Zum Buch:
Im ersten Teil des Romans wird Tomer Gardi von dem Intendanten eines großen deutschen Theaters und dessen ebenso deutschen Schäferhund durch einen Wald gehetzt. Eigentlich hatten beide zusammen einen Tag auf der Yacht verbringen wollen: ein Missverständnis, ein Wortspiel. Die Yacht verwandelt sich in eine Jagd, der geladene Gast Tomer wird wie selbstverständlich vom Freund zum Beutetier. Das antisemitische Mordvorhaben entpuppt sich als die wahre Bedeutung des Geschehens, und das Allegorische, Homonyme und Symbolische gewinnt die Überhand. Das gewährt Gardi (als Autor) die Möglichkeit, alle Register seines überdrehenden, halsbrecherischen Humors zu ziehen. Was folgt, ist eine beschwerliche und vergebliche Reise zurück in das, was man Normalität nennen könnte. Märchen- und Sagenfiguren des deutschen Mythologie-Fundus kreuzen die Geschichte, die in einem quasi-biblischen Arche-Szenario gipfelt, in dem jede Figur, auf ihren symbolischen Gehalt reduziert, der Erlösung entgegenschippern soll. Die Figur Tomer Gardi verweigert die Zuschreibung des Ewigen Juden, seine Geschichte ist die des hart erlernten Misstrauens gegen jede Art von Zivilisation und Mitmenschlichkeit als Selbstverständlichkeit. Eine Abenteuer- und Schelmengeschichte, in der sich hinter jedem Witz Abgründe auftun. Geschrieben ist dieser Teil des Romas in dem idiomatischen Broken German, für das der israelisch-deutsche Autor bereits bekannt ist.
Das ändert sich in der zweiten Hälfte des Romans, der ursprünglich auf Hebräisch verfasst und von Anne Birkenhauer ins Deutsche übersetzt wurde. Hier beginnt eine neue Geschichte – oder ist es die gleiche Geschichte in neuem Gewand? Auch bei der biographischen Darstellung des Lebens des indonesischen Malers Raden Saleh Syarif Bustaman, der als Kind eines Adligen von den niederländischen Kolonialherren aus machtpolitischen Gründen adoptiert und ausgebildet wird, begegnen wir einer Engführung von Kultivierung und Aneignung, von Misstrauen und Selbstbehauptung. Wie Tomer Gardi (die Figur und der Autor) ist auch Raden Saleh ein Künstler. Er erlernt von seinen europäischen Lehrern den flämischen Realismus der großen Schifffahrtsszenerien. Der in diesem Teil realistisch gehaltene Prosastil Gardis reflektiert das. Mit der Zeit beginnt Saleh, diese Mittel gegen die Deutungshoheit der Kolonialisten zu wenden und damit mit der Glorifizierung der Seemacht Niederlande, dem politischen Untergrund dieser goldenen Kunstzeit, zu brechen.
Darin eine Runde Sache zu erkennen, liegt jedoch alles andere als auf der Hand: Am Ende hat man das Gefühl, zwei völlig unterschiedliche Romane gelesen zu haben. Das gemeinsame Thema, die Zwiespältigkeit deutscher und europäischer Kultur in der ihr inhärenten Bedrohung, Annihilation und Aneignung des Anderen, wird erst in der Rückschau deutlich, und das gehört zu den herausragenden Langzeitwirkungen des Romans. Zunächst liest man diesen als einen halb surrealen, halb realistischen Unterhaltungsroman, dem weder sein poetischer Anspruch noch seine hochpolitischen Themen die Leichtigkeit nehmen. Wer den Erstling des Autors, Broken Germa, noch nicht gelesen hat, sollte das unbedingt nachholen, aber es könnte mit Recht behauptet werden, dass es sich bei diesem neuen Roman um das bisher beste Werk des Autors handelt. Völlig zu Recht steht er deshalb in diesem Jahr auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises in der Rubrik Belletristik.
Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt