Zum Buch:
Das Private ist politisch. Diese Erkenntnis der Frauenbewegung rückt Sole Otero in eine besondere Perspektive: sie lässt das Politische immer mehr ins Private eindringen, genauer in ein Haus. Es ist das Haus ihrer Großmutter und es steht in einem Vorort von Buenos Aires. Immer wieder werden wir im Laufe der gut 300 Seiten den Grundriss dieses Hauses sehen, als hätte jemand das Dach hochgehoben. Naphtalin heißt die bemerkenswerte Graphic Novel der argentinischen Zeichnerin und Autorin.
Als ihre Großmutter Vilma stirbt, zieht die junge Rocío in deren Haus. Sie ist 19, sie weiß nicht, was sie mit ihrem Leben machen soll. Ihr Mutter bedrängt sie, ernsthaft zu studieren, der Teenager ist sich da nicht so sicher. Wir schreiben das Jahr 2001, Argentinien befindet sich in einer hochdramatischen Wirtschaftskrise. Die zerbrechliche Demokratie ist in Gefahr.
Rocío zieht das Telefonkabel, sie will von einem Außen nichts mehr wissen. Sie erkundet das Innere der Wohnung und erinnert sich an die Großmutter, vor allem an eine schlecht gelaunte Frau, die alle in der Familie mit ihren Vorwürfen überzog. Rocío taucht ein in die Geschichte von Vilma. Emigriert aus dem faschistischen Italien kommt deren Familie nach Argentinien. Für Mädchen ist keine Karriere, kein Studium vorgesehen. Ihr Bruder, den sie innig liebt, ist homosexuell, wird gemobbt und verprügelt. Als sich ihm die Möglichkeit einer bürgerlichen Laufbahn eröffnet verleugnet er seine Sexualität und lässt auch die Schwester im Stich. Vilma verbittert.
Geschickt und subtil verwebt Sole Otero die Geschichte der Großmutter mit den Fragen der Enkelin. Zunächst ist es die Katze Vilmas, die mit ihren Flöhen Rocío das Leben beschwerlich macht. Sie fühlt sich nicht mehr wohl in ihrer Haut, es juckt. Immer deutlicher wird, welche gesellschaftlichen Faktoren und Ereignisse die Familiengeschichte antreiben. Am Ende erkennt Rocío, dass die Klage nach Innen den Zwang nur wiederholt. Sie versteht, dass sie mit ihren Mitteln und Fähigkeiten – zum Beispiel ihrer Leidenschaft für Fotografie – den Blick auf Leben und Gesellschaft richten muss.
Oteros Zeichnung sind stilisiert und mit einer farbkräftigen Dramaturgie inszeniert. Der Text ist ein Bericht der jungen Enkeltochter, ein tagebuchartiges Ringen um die eigene Geschichte. Dieser souveräne Einsatz von Text und Bild, der eigenwillige zeichnerische Stil und die Spannung der Geschichte brachten Sole Otero den prestigeträchtigen Publikumspreis des wichtigsten Europäischen Comicfestival im französischen Angouleme. Dort wohnt die Künstlerin übrigens auch. Sie musste aus Argentinien auswandern, als Comiczeichnerin kann man dort ökonomisch nicht überleben.
Jakob Hoffmann, Frankfurt a.M.