Zum Buch:
Der Himmel über der Stadt zeigt sich an diesem Morgen wolkenlos und von einem nahezu transparenten Blau. Noch ist die Luft angenehm kühl, und über den Wassern des sich gabelnden Ōta gehen Schwarzhalskraniche nieder, was stets ein gutes Zeichen ist.
Der 6. August 1945 verspricht ein angenehmer Tag zu werden.
Frau Nakamura, eine Schneiderwitwe, steht vor dem Küchenfenster ihres einfachen Holzhauses. Während sie darauf wartet, dass der Reis kocht, beobachtet sie ihren Nachbarn, der sein Haus Balken für Balken niederreißt, um eine Brandgasse zu bilden, da man jeden Tag mit einem Luftangriff rechnen muss. Seit ihr Mann eingezogen wurde und gleich am ersten Tag der Eroberung Singapurs fiel, ernährt Frau Nakamura sich und ihre drei kleinen Kinder, die gerade im Untergeschoss schlafen, mehr schlecht als recht durch das wenige Geld, das sie mit Näharbeiten verdient. Als die Sirenen ertönen, schreckt sie auf und rennt sogleich die Treppe hinunter.
Pater Wilhelm Kleinsorge, ein deutscher Jesuiten-Priester, der seit längerem an Diarrhöe leidet, da sein ohnehin schwacher Magen das schwarze Rationierungsbrot nicht verträgt, liest in der Missionskappelle ein Dankgebet. Beim Aufheulen der Sirenen tritt er rasch ins Freie und sucht den Himmel ab – doch stellt er zu seiner Erleichterung fest, dass es sich gewiss nur um eines jener Wetterflugzeuge handeln wird, die in letzter Zeit fast täglich über der Stadt kreisen.
Dr. Sasaki ist Chirurg des Rote-Kreuz-Spitals. Er sitzt im Abteil eines Eisenbahnzugs der nach zweistündiger Fahrt aus der Provinzstadt Mukaihara mit einiger Verspätung in den Bahnhof einläuft. Er ist unsäglich müde, da er im Verlauf der letzten Monate neben seiner Tätigkeit im Spital auch Patienten in seinem Heimatort betreut hat. Was, laut Gesetz, unter Höchststrafe verboten ist. Erst Wochen später wird er sich bewusst, dass er, hätte der Zug keine Verspätung gehabt, diesen Tag mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht überlebt hätte.
Als um Punkt 8:15 Uhr Ortszeit in sechshundert Metern Höhe über Hiroshima eine Atombombe zündet, die einst blühende Stadt innerhalb eines Sekundenbruchteils mitten in der Bewegung zum Stehen bringt, in Brachland verwandelt und auf einen Schlag mindestens 100.000 Menschenleben auslöscht, versteht zunächst niemand, was überhaupt geschehen ist. Diejenigen, die das Inferno überlebt haben, finden sich unter den Trümmern ihrer Häuser wieder oder schleppen sich, von grauenhaften Brand- und Risswunden gezeichnet und die erstickten Hilferufe der Verschütteten vernehmend, orientierungslos in der Düsternis des Ascheregens dahin.
Der Journalist und Schriftsteller John Hersey hatte sich 1946 viel Zeit genommen, um über die Folgen des Atombombenabwurfs auf Hiroshima zu recherchieren. Auf seine zurückhaltende, empathisch-nüchterne Art beschrieb er die Schicksale sechs völlig unterschiedlicher Zeitzeugen, die noch Jahrzehnte danach mit den Erinnerungen wie auch den Nachwirkungen dieses schrecklichen Tages zu kämpfen hatten. Jetzt erstmals auf Deutsch erschienen, ist Hiroshima auch heute noch ein Paradebeispiel für investigativen Journalismus.
Axel Vits, Köln