Zum Buch:
Hermann Brinkmann wird 1973 zur Bundeswehr eingezogen. Gegen seinen Willen, gegen sein Gewissen. Die Kriegsdienstverweigerung des konsequenten Pazifisten wird abgelehnt. Von den Bundeswehrärzten will er sich eine Depression bestätigen lassen – wird aber als gesund diagnostiziert. Er zerbricht und nimmt sich das Leben. Seine Familie prangert das Verhalten des Staates in der Todesanzeige für den Bruder und Sohn an und erntet einen Shitstorm von der Springerpresse. In Gegen mein Gewissen rekonstruiert Hermann Brinkmanns Nichte Hannah seine Geschichte.
Die sogenannte Gewissensprüfung erscheint wie ein monströses Ritual aus längst vergangener Zeit. Eine Art Inquisition, wie es in dem Buch heißt. Es ist ein Verdienst der Autorin, die Ereignisse, die in Wirklichkeit keine 50 Jahre zurückliegen, zeitlich zu kontextualisieren. Das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft ist der Handlung zeitlich näher als die Gegenwart, also der Zeit, in der die junge Zeichnerin ihre Recherche beginnt. Aber es ist ein Kapitel der demokratischen Bundesrepublik Deutschland. Es macht klar, wie eminent wichtig die Protestbewegungen der 60er und 70er Jahre waren und wie viel in der doch relativ kurzen Zeit bis heute erreicht wurde. In Bov Bjergs famosem Roman „Auerhaus“ ist die „Musterung“ Thema einer zentralen Szene. Auch dieses Prozedere muss einem jungen Publikum heute erklärt werden. Wo Bjerg die Form der Groteske wählt (nicht im gesamten Roman) arbeitet Hannah Brinkmann in einem streng dokumentarischen Rahmen. Darin rekonstruiert sie Dialoge mit hoher Plausibilität. Sie wagt aber noch einen weiteren Schritt: In großen Tableaus versucht sie, Bilder für das Innenleben des Protagonisten zu finden. Sie verbindet dabei die Strenge medizinisch-anatomischer Studien mit alptraumartigen grafischen Sequenzen, in denen Insekten und eine gruselig schöne Unterwasserwelt eine entscheidende Rolle spielen. Besonders eindrücklich gelingt ihr das bei der Schilderung der Verhandlung zur „Gewissensprüfung“.
Gegen mein Gewissen ist die verblüffend ausgereifte Abschlussarbeit Brinkmanns an der HAW Hamburg. Von dort kommen eine ganze Reihe außergewöhnlicher Comic-Künstler*innen. Bemerkenswert auch der Mut des avant-Verlags, dieser Bilderzählung das opulente Format zu gönnen, dass sie braucht. Brinkmanns Stil ist grafisch, detailreich und von eigenwilliger Farbgebung. Die dramatische Geschichte wird durch fast emotionslose Gesichter erzählt, eine Brechung, die den beschriebenen Machtverhältnissen eine noch größere Wucht verleiht. Die Seitengestaltung ist akribisch durchgearbeitet und enorm abwechslungsreich – eine lohnende visuelle Herausforderung.
„Du warst nicht dabei Hannah, Du weißt nicht, wie es für uns war“, sagt Hermanns Bruder zu seiner Tochter. Zunächst stößt Hannahs Brinkmanns Idee eines Comics über die Geschichte ihres Onkels in ihrer Familie auf Ablehnung. Sie bleibt beharrlich, verbindet die Familiengeschichte mit der Geschichte des Landes. „Jetzt ist es anders“, sagt ihr Vater später, „dadurch, dass Du seine Geschichte aufgearbeitet hast, hast Du ihr einen Sinn gegeben.“
Jakob Hoffmann, Frankfurt