Zum Buch:
Sankofa ist der Name eines Vogels in einem ghanaischen Mythos, eines Vogels, der stets zurückblickt und die Zukunft in der Vergangenheit sieht. Und so ist es nur folgerichtig, dass Dogan Akhanlis seinen posthum erschienenen Roman mit den Worten beginnen lässt: „Erst Jahre später …“ Genauer gesagt, hat es 26 Jahre gedauert, bis der namenlose Protagonist, der nur „der Oberleutnant“ genannt wird, in Köln seiner Frau Lisa erzählt, wie sein Leben damals in der Türkei aussah und was ihn dazu gebracht hat, die Türkei zu verlassen und als Fotograf die Kriege von Ruanda bis Jugoslawien zu dokumentieren. Damals, 1987, war er als junger Oberleutnant damit beauftragt, acht zum Tode verurteilte politische Gefangene wiederzufinden, die durch einen selbst gegrabenen Tunnel aus einem der am besten bewachten Gefängnisse des Landes ausgebrochen waren. Bei Gülsen, der Frau von Tayfun Kara, dem Anführer, findet er ein Konvolut von über 2000 Briefen; Tayfun hat ihr täglich geschrieben. Es sind zärtliche Liebesbriefe, voller Sehnsucht und Poesie, aber auch voll von einer Hoffnung, die im Todestrakt eigentlich keinen Raum haben dürfte. Die Lektüre dieser Briefe eröffnet dem von Kind an militärisch gedrillten Oberleutnant Zugang zu einer Welt, die er nicht kannte, in die er aber unbedingt eintauchen will. Die einzige Möglichkeit, das Militär und die Türkei legal zu verlassen, ist die Heirat mit einer Ausländerin, und es ist sein Glück, dass er in der Journalistin Lisa aus Köln nicht nur eine Ausreisemöglichkeit, sondern zugleich auch seine große Liebe findet.
Mit der Ankunft in Köln zerschneidet er jede Bindung an seine Vergangenheit, an seine Familie und an die Türkei, 26 Jahre lang, bis er bei der Sichtung seiner Fotos für die Ausstellung _Sankofa“_unerwartet wieder Zugang zu ihr findet. Aus den dadurch ermöglichten Begegnungen entstehen neue Begegnungen, neue Kreise, aus denen wiederum Geschichten erwachsen und Geschichte lebendig wird. Aus zufälligen Begegnungen und Berührungspunkten der sehr verschiedenen Protagonisten entwickelt er lange verschwiegene Lebensschicksale, immer vor dem Hintergrund der politischen Verhältnisse, seien es die Militärdiktatur in der Türkei, die NSU-Morde in Deutschland oder die Rassenunruhen in den USA. Das mag jetzt wie ein allzu großer Rundumschlag klingen, aber so liest sich das Buch keineswegs. Die Lebensgeschichten, die Akhanli vor uns ausbreitet, sind so dicht, so wunderbar beschrieben, die Rätsel, mit den die Protagonisten durch das allzu lange Schweigen in den Familien zu kämpfen haben, so berührend, die verschiedenen Erzählformen – mal Abenteuer, mal Krimi, mal Liebesdramen – so faszinierend, dass man das Buch kaum noch aus der Hand legen kann. Zwei rote Fäden halten das ganze zusammen: die Auswirkungen von Gewalt und Rassismus auf der einen und die unverbrüchliche Freundschaft, Hilfsbereitschaft und Fürsorge in der Gemeinschaft der Protagonisten auf der anderen Seite.
Sankofa ist ein gewaltiges Plädoyer für ein Verständnis von Gegenwart, das aus dem Rückblick auf die Geschichte erwächst und in die Zukunft führt – und die ist keineswegs hoffnungslos. Unbedingt lesen!
Irmgard Hölscher, Frankfurt a.M.