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Autor
Altenried, Moritz; Dück, Julia; Wallis, Mira (Hg)

Plattformkapitalismus und die Krise der sozialen Reproduktion

Untertitel
Beschreibung

In den Hochzeiten der Corona-Krise wurde das Personal in den Krankenhäusern, den Alters- und Pflegeheimen, wurden die Verkäufer:innen und all die anderen oft prekär beschäftigten und zumeist schlecht bezahlten Träger:innen der sozialen Reproduktion als „systemrelevant“ geadelt und beklatscht. Davon, dass die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung sich durch den vorherrschenden Umgang mit der Pandemie aber sogar noch verschärft hatte, war wenig die Rede. Die vielen Streiks in diesen Sektoren jedoch klagen an: Noch die alltäglichsten Sorgearbeiten vollziehen sich in einem permanenten Ausnahmezustand der Überlastung. Mit Beginn der vermeintlichen post-pandemischen „Normalisierung“ sind die Probleme der alltäglichen Reproduktion und die Notwendigkeit einer sozialen Infrastruktur längst vergessen.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Westfälisches Dampfboot, 2021
Format
Broschur
Seiten
295 Seiten
ISBN/EAN
978-3-89691-056-1
Preis
30,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Herausgebr*in
Moritz Altenried ist Post-Doc am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) und am Institut für Europäische Ethnologie der HU Berlin. Er promovierte zur Transformation der Arbeit im digitalen Kapitalismus. Forschungsschwerpunkte: Arbeit, Digitalisierung, Migration, Plattformen und urbane Logistik.

Julia Dück, Referentin für Soziale Infrastrukturen, verbindende Klassenpolitik, Gesundheit und Care am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa Luxemburg Stiftung. Sie promovierte zu Kämpfen um Care in der Krise und Transformationen der sozialen Reproduktion. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: marxistische und feministische Gesellschaftstheorie, soziale Reproduktion, Geschlechterverhältnisse, Care und Gesundheit sowie die darum stattfindenden gesellschaftlichen Kämpfe.

Mira Wallis, wiss. Mitarbeiterin und Doktorandin am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) und am Institut für Europäische Ethnologie der HU Berlin. Gemeinsam mit Moritz Altenried und Manuela Bojad¸ijev arbeitet sie im DFG-geförderten Forschungsprojekt „Digitalisierung von Arbeit und Migration“. Arbeitsschwerpunkt: ortsungebundene Plattformarbeit (sog. Crowdwork).

Zum Buch:

In den Hochzeiten der Corona-Krise wurde das Personal in den Krankenhäusern, den Alters- und Pflegeheimen, wurden die Verkäufer:innen und all die anderen oft prekär beschäftigten und zumeist schlecht bezahlten Träger:innen der sozialen Reproduktion als „systemrelevant“ geadelt und beklatscht. Davon, dass die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung sich durch den vorherrschenden Umgang mit der Pandemie aber sogar noch verschärft hatte, war wenig die Rede. Die vielen Streiks in diesen Sektoren jedoch klagen an: Noch die alltäglichsten Sorgearbeiten vollziehen sich in einem permanenten Ausnahmezustand der Überlastung. Mit Beginn der vermeintlichen post-pandemischen „Normalisierung“ dreht sich die gesellschaftliche Debatte wieder um Wachstum, Modernisierung und einen allenfalls handzahmen „Green Deal“ – die Probleme der alltäglichen Reproduktion und die Notwendigkeit einer sozialen Infrastruktur sind längst vergessen.

Gegen die Tendenz, unter dem Signum des „Wandels“ doch wieder nur eine öko-sozialliberale Erneuerung der Herrschaft kapitalistischer Produktionsweise zu betreiben, werden in dem hier angezeigten Sammelband die Probleme, Bedingungen und Möglichkeiten privater und gesellschaftlicher (Re-) Produktion im Kontext neuer Formen kapitalistischer Akkumulation analysiert. Google, Facebook, Amazon, Uber und andere Plattformen werden in ihrer Bedeutung für die neoliberalistischen Transformationen unser aller „(vergeschlechtlichten) Alltagspraxen, Routinen und (Selbst-) Verständnissen“ untersucht. Es geht um „die Charakterisierung einer Strategie, eines Geschäfts- oder sogar Akkumulationsmodells, in dessen Kern der Versuch steht, Plattformen zu unverzichtbaren Infrastrukturen des Alltagsleben zu machen“: Sorgeplattformen wie Care.com oder Babysits, auf denen Kinderbetreuung angeboten wird, Lieferando oder Deliveroo, die einspringen, wenn zum Kochen gerade die Lust oder Zeit fehlt, oder z.B. Helpling, die den flexiblen Einsatz von (zumeist weiblichen) Putzhilfen ermöglichen, setzen an den Bedürfnissen ihrer Kund:innen an, die ihre reproduktive Arbeit erleichtert bekommenwollen. Sie kommodifizieren so, was vormals privat, familär und unbezahlt verrichtet wurde. Und für jene, die sich derartige Angebote nicht leisten können und gezwungen sind, ihre private Reproduktionsarbeit und das Geldverdienen „unter einen Hut“ zu bringen, gibt es Plattformen, die Möglichkeiten zur digitalen Heimarbeit als „Crowdworker:innen“ bieten. In den einzelnen Beiträgen wird herausgearbeitet, wie die Antwort der profitorientierten Plattformen auf die gesellschaftliche und je individuell-private Reproduktionskrise zu neuen Widersprüchen, Ungleichheiten und Ausschlüssen führen. Denn „das Versprechen zeitlicher und teils auch räumlicher Flexibilität, das für viele Arbeitende die Plattformarbeit attraktiv macht, bringt immer auch gravierende Kosten mit sich“: Der „Druck der ständigen Verfügbarkeit, verschärfte Unsicherheiten und das Verschwimmen der Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit“ entmächtigt die Betroffenen substanziell.

Das vielstimmige Fazit des Sammelbandes: Eine radikale Veränderung unserer Lebens- und Arbeitsbedingungen, der Formen unserer Produktions- und Reproduktionsverhältnisse tut not. Wie alternative, gemeinwohlorientierte Plattformen gegen die ewige Dialektik von Kommodifizierung, Dekommodifizierung und Rekommodifizierung unserer physisch-psychisch-sozialen Reproduktion einen Beitrag zur emanzipatorischen Revolutionierung unseres Alltagslebens leisten können und sich übers punktuelle Experimentieren hinaus gesellschaftlich verallgemeinern lassen, diskutiert der den Sammelband abschließende Beitrag.

Michael Hintz, Karl Marx Buchhandlung, Frankfurt