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Hoch oben im nordöstlichen Teil Russlands und dem nordwestlichen Sibiriens lebt der Stamm der Nenzen, ein indigenes Nomadenvolk, dessen Lebensrhythmus von den Rentierherden bestimmt wird, die seine Lebensgrundlage bilden. In der unwirtlichen Region, in monatelangem Schnee und Frost, haben die festgefügten Regeln der Gemeinschaft – einer patriarchal geprägten Stammesstruktur mit klar geregelter Arbeits- und Geschlechtertrennung – geholfen zu überleben. So war es, bis nach der russischen Revolution die neue Gesellschaftsordnung auch in die entlegenen Regionen vordrang und die bis dahin geltenden Gesetze der traditionellen Lebensweise in Frage stellte.
In diesem Spannungsfeld zweier Lebensweisen spielt sich Weiße Rentierflechte ab. Im Zentrum der Handlung steht der sechsundzwanzigjährige Aljoschka. Seine Mutter hat für ihn nach traditioneller Sitte ein junges Mädchen ausgesucht und die Hochzeit arrangiert. Aber Aljoschka will nicht. Er will Illne, in die er sich im Internat, in dem alle Kinder ihre Schulzeit fern von ihren Eltern verbringen müssen, verliebt hat. Wie viele der jungen Nenzen ist Illne danach in der Stadt geblieben, statt wieder zu ihrem Stamm und dem harten Leben dort zurückzukehren. Seit sieben Jahren warten Illnes alter Vater Petko und Aljoschka auf ihre Rückkehr. Auch wenn Aljoschka tief im Inneren weiß, wie vergeblich es ist, beharrt er darauf, seinem Gefühl und nicht der Tradition folgen zu wollen.
Weitere handelnde Personen – neben Aljoschka und seiner Mutter – werfen Schlaglichter auf die fragilen Lebensbedingen der Nenzen: Petko, Illnes Vater, der nach dem Tod seiner Frau und dem Weggang der beiden Töchter alleine zurückbleibt, ist auf das Wohlwollen anderer angewiesen. Er legt seinen Gürtel, das Zeichen eines selbstständigen Mannes, ab und wird von nun an nichts weiter als “ein Alter” sein. Petkos Freund Wanu erinnert sich auf einer langen Fahrt in den Kolchos “Roter Norden” an die Zeit, als eine tödliche Seuche unter den Rentieren wütete, und an die damit verbundene Hungersnot der Nenzen. Damals halfen die Sowjets ihnen mit Nahrungsmitteln über die schwere Zeit. Aber das blieb nicht immer so. Das brutal durchgesetzte Plansoll des “Sowjet” zerstört den natürlichen Zuchtzyklus von Chassawas Herde, weil er mehr Tiere schlachten muss als nachwachsen, und gefährdet damit seine Lebensgrundlage. Seine habgierigen Kinder, die das Nomadenleben aufgegeben haben, nehmen ihm den Rest. An diesen Schicksalen zeigt Anna Nerkagi die Härte eines Lebens auf, das nicht nur den Unbilden der Natur ausgesetzt ist, sondern auch den Veränderungen durch die Ausbeutung der Lebensräume und den Verlockungen des modernen Lebens trotzen muss.
Weiße Rentierflechte ist keine idyllische Beschreibung der traditionellen Lebensweise eines Nomadenvolkes. Zumeist spricht die Autorin aus der Sicht der jeweiligen Protagonisten und idealisiert weder die jeden Individualismus negierende Gruppenidentität noch die hierarchische Geschlechtertrennung der patriarchalischen Gesellschaft. Berührend erzählt der Text von einem Volk, das sich als Teil einer beseelten Natur begreift, in der Entnommenes und Erhaltenes zurückgegeben wird, um den nährenden Kreislauf von Pflanze und Tier genauso zu erhalten wie das Sozialgefüge der Menschen. Aber dazu gehört die Anerkennung der Regeln – zum Beispiel die absolute Vormachtstellung der Männer mit dem Recht, ihre Frauen zu schlagen – sicherlich auch ein Grund für junge Nenzeninnen, dem Nomadenleben zu entfliehen.
Anna Nerkagi kennt beide Seiten des nenzischen Lebens. Ihre Schulzeit hat auch sie im Internat verbringen müssen. Nach einem Studium kehrte sie zu ihrem Stamm zurück und gründete eine Tundra-Schule für nenzische Kinder. 1977 debutierte sie als Autorin. Ihr Roman Weiße Rentierflechte ist ein vielstimmiger Text; zu jeder Person gehört ein eigener Ton. Mit einer nüchternen, aber keineswegs kunstlosen Erzählhaltung eröffnet die Autorin dem Leser den Raum, sich ein eigenes Urteil über diese fremde Welt zu bilden. Dazu hilft, dass einzelne Begriffe, die im Text hervorgehoben sind, im Anhang, in einem “Kleinen ABC des nenzischen Lebens“ erläutert werden. Unbedingt erwähnt werden müssen auch die vorangestellten wunderschönen Fotos von Sebastião Salgado.
Ruth Roebke, Frankfurt