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Der papierene Freund

Autor
Kaiser, Wolf (Hg)

Der papierene Freund

Untertitel
Holocaust-Tagebücher jüdischer Kinder und Jugendlicher
Beschreibung

Wolf Kaiser hat eine große Zahl von Tagebüchern ausgewählt und herausgegeben, die jüdische Kinder und Jugendliche in der Zeit der Shoah verfasst haben. Viele Notizbücher oder Zettel mit Manuskripten sind Zeugnis ihrer ermordeten Autorinnen und Autoren geworden. Bei denjenigen, die überlebt haben, wurde das Tagebuch oft zu einem Mittel, die Botschaft des Überlebens des Jüdischen Volkes öffentlich zu verbreiten.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Metropol-Verlag, 2022
Seiten
607
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-86331-640-2
Preis
39,00 EUR
Status
lieferbar

Zum Buch:

Wolf Kaiser hat eine große Zahl von Tagebüchern ausgewählt und herausgegeben, die jüdische Kinder und Jugendliche in der Zeit der Shoah verfasst haben. Viele Notizbücher oder Zettel mit Manuskripten sind Zeugnis ihrer ermordeten Autorinnen und Autoren geworden. Bei denjenigen, die überlebt haben, wurde das Tagebuch oft zu einem Mittel, die Botschaft des Überlebens des Jüdischen Volkes öffentlich zu verbreiten. Diese schwierige Position formuliert Lena Jedwab aus Bialystok, die in Kasachstan überlebt hat und später eine Expertin für die Jiddische Sprache in Paris wurde, am 6. September 1944: „Der Horror ist klar: Sie alle sind als Kiddusch ha-Schem gestorben! Und ich werde eine traurige Kreatur mit vielen Sorgen. Aber meine jugendlichen Träume und Pläne sind noch da. Ich bin zur Einsamkeit verurteilt, aber ich kann nicht allein sein. Ich will leben, und des Lebens Herrlichkeit genießen!“ (S. 538 f.)

Für die Edition hat Wolf Kaiser nur solche Tagebücher ausgewählt, „die so vorliegen, wie sie während des Krieges geschrieben worden sind“ (S. 14). Dadurch fehlen die bekannten, seit langem edierten Tagebücher. Der Band stellt die Aufzeichnungen nicht vollständig vor, vielmehr hat der Herausgeber eine Auswahl getroffen, die für die Lesbarkeit und das Vergleichen der Schicksale hilfreich ist. Er gliedert die Tagebücher nach Regionen. Zu jedem Tagebuch gibt es eine ausführliche Einleitung, die vor allem die Autorin bzw. den Autor, ihre Lebensumstände und ihr Schicksal in der Shoah vorstellt. Danach folgt ohne weiteren Kommentar der Abdruck des Tagebuchtextes, meistens in Auszügen. Wenn die Aufzeichnungen nicht auf Deutsch geschrieben wurden, wird eine meist für diese Sammlung erstellte Übersetzung präsentiert.

Die Texte sind mit einem Anmerkungsapparat versehen, der Hinweise auf die Forschungslage zu den Lebens- und Verfolgungszusammenhängen der Kinder und Jugendlichen gibt. Das ist zumindest für die Nutzerinnen und Nutzer der Edition hilfreich und notwendig, weil der Verlauf und die Bedingungen der Verfolgung und der Flucht sich grundlegend unterscheiden. Genau dies ist zugleich eine Stärke des Bandes. Je näher wir dem Verbrechen des Holocaust kommen, desto weiter differenziert sich das Geschehen aus und desto unterschiedlicher sind Erfahrungen und die Handlungsmöglichkeiten der Einzelnen. Es sind private, oft anrührend naive, in anderen Fällen weitsichtig reflektierende Texte, aber immer dezidiert aus einer begrenzten Perspektive verfasst. Die Autorinnen und Autoren schreiben über ihre Erfahrungen in den Familien, über all die Themen, die Heranwachsende beschäftigen. Es gibt Reflexionen über das eigene Verhältnis zur Religion, zum Zionismus, zu politischen Positionierungen. Diese in einigen Fällen philosophischen Passagen ziehen sich auch durch die Notizen, die bereits von der wachsenden Todesgefahr und von den Erfahrungen der Ermordung ihrer Angehörigen und Freunde geprägt sind.

Am Ende der sehr instruktiven Einleitung der Dokumentation schreibt der Herausgeber, die Tagebücher könnten auch als Denkmale betrachtet werden. Je länger man sich in den Band vertieft, desto stärker wird das Bewusstsein, dass der Band selbst in erster Linie ein Denkmal ist: ein Denkmal für die als Juden verfolgten Kinder und Jugendlichen, die in der Shoah ermordet wurden oder ihr Leben als ein Leben „danach“ fortführten. Wer das „Childrens Memorial“ in Yad Vashem kennt, weiß um die atemberaubende ästhetische Wucht dieses Denkmals. Es ist dafür gemacht, zu überwältigen. Das Buch-Denkmal von Wolf Kaiser ist dafür gemacht, die Überwältigung angesichts der Dimension des Verbrechens der Shoah zu überwinden und sich den Menschen zuzuwenden, deren Leben zerstört wurde.

Tagebücher sind ihrer Funktion nach persönliche Schreiborte der Selbstverständigung, eben ein „papierener Freund“. Dem wird diese Edition gerecht, indem sie die Individualität der Zeugnisse betont. Aus der von Wolf Kaiser kuratierten Vielfalt der Perspektiven ergibt sich ein Blick auf die Vielgestalt der Positionen und Lebensentwürfe, die von der antisemitischen Verfolgung im Holocaust erfasst wurden. Ein Aufleuchten der Diversität der jüdischen Diaspora in Europa, deren Vernichtung das Ziel der NS-Politik war. Der Band sollte nicht als Quellensammlung für die pädagogische Nutzung verstanden werden. Das mag ein Nebeneffekt sein. Es gibt kein Tagebuch, das für alle Opfer der Shoah steht, das wird hier deutlich. So ist das Buch auch ein wichtiger Beitrag dazu, die Erinnerungskultur nicht in Kitsch abgleiten zu lassen.

Gottfried Kößler, Frankfurt a. M.