Zum Buch:
Middle England ist das ländliche Herz Großbritanniens. Dort, in der Grafschaft Shropshire, lebt Benjamin Trotter in einer Wassermühle, die nach dem Scheitern seiner Ehe viel zu groß für ihn ist. In einer idyllischen, unaufgeregten Gegend, deren größte Attraktion das Gartencenter in einem der Nachbardörfer ist. Dort, in der ländlichen Abgeschiedenheit, hofft er, seinen Roman, an dem er seit Jahren schreibt, zu Ende zu bringen.
Benjamin, sein alter Vater Colin, seine Schwester Lois, deren Tochter Sophie und seine Freunde Philip Chase, Verleger für Bücher über Heimatkunde, sowie der Journalist Doug sind die Protagonisten in Jonathan Coes neuem Roman, umgeben von einer kleinen, überschaubaren Gruppe weiterer Figuren – fast alles Angehörige der Middle-Class. (Wer Coens vorherige Bücher Erste Riten und Klassentreffen gelesen hat, dem begegnen hier einige bekannte Personen. Für die Lektüre dieses Buches ist das jedoch ohne Belang.)
Middle England setzt im Jahr 2010 ein und endet 2018 mit dem Brexit-Referendum. Seit dem Finanzcrash, der dem Höhenflug der Londoner Börse und der Kaste der Banker eine unsanfte Landung bescherte (deren Preis jedoch viele andere zahlten), hat sich die Stimmung im Land geändert. Ein latenter Unmut über die Regierung, die Politik, die “Einwanderer”, über die “Fremdbestimmung” durch die EU und damit verbunden eine nostalgische Sehnsucht nach “Englishness” arbeitet sich zunehmend an die Oberfläche und beginnt sich zu artikulieren – oder eher, deutlich zu grummeln. Und das nicht nur unter den Abgehängten und Vergessenen der fetten Jahre vor dem Crash.
Im Buch beginnt das harmlos mit kleinen, atmosphärisch dichten Szenen wie dieser: “Bei jeder Gelegenheit wollen diese Arschgeigen einem noch mehr Geld abknöpfen” räsoniert Colin, Benjamins alter Vater, angesichts einer Radarkontrolle. Wer “die” sind, ist ihm keine weitere Erwähnung wert. Politische und private Ereignisse geschickt und genau verknüpfend, dabei der Chronologie der Jahren folgend, schildert Jonathan Coe, wie in einem relativ friedlichen Land der Dialog zwischen einzelnen Menschen und Gruppen zunehmend vergiftet wird, wie Meinungen wirksamer als Tatsachen werden und Verschwörungstheorien um sich greifen – bis der Karren an die Wand gefahren ist …
So wird Benjamins Nichte Sophie, Literaturdozentin an einer Universität, in eine an den Haaren herbeigezogene Gender-Debatte verwickelt, die in einem wütenden Hashtag endet und mit ihrer Suspendierung von der Lehre gipfelt. Ihre Schwiegermutter, die ihrer Abneigung gegenüber der “Tyrannei der Politischen Korrektheit” und dem Gefühl, nicht mehr die Mehrheit im eigenen Land zu sein, gerne Ausdruck verleiht und ihre osteuropäische Haushaltshilfe weidlich ausnutzt, erhält von Sophies Mann plötzlich Unterstützung, als ihm bei einer Beförderung eine Kollegin aus asiatischem Elternhaus vorgezogen wird. Die politischen Pirouetten der Cameron-Jahre werden hinreißend verkörpert durch einen persönlichen Referenten des Regierungschefs, von dem der Journalist Doug sich Informationen erhofft, dessen aalglatte, verschwurbelte Argumentationen aber nur zu einem Ergebnis führen: Sie sind genauso ungreifbar und flüchtig wie die Politik seines Chefs.
Man könnte dem Buch vorwerfen, seine Protagonisten zu Stellvertretern bestimmter Typen und Haltungen zu machen, die manchmal zu holzschnittartig agieren. Auch hätte ich mir gewünscht, dass ein aufmerksames Lektorat einige sehr englische Wortstellungen zurechtrückt. Aber das sind kleine Einschränkungen. Middle England ist ein witziges, fesselndes Buch, das klarsichtig viele kleine persönliche Geschichten zu einer großen politischen Geschichte verknüpft. Das den Weg eines Landes in eine unüberbrückbare Spaltung zeigt, deren Folgen zur Zeit von der Corona-Pandemie verdeckt sein mögen – verschwunden sind sie nicht.
Ruth Roebke, Bochum