Zum Buch:
In diesem Buch sind (fast) alle versammelt: Könige und Königinnen, geopferte Königstöchter, Zauberinnen, Priesterinnen, Helden, Tyrannen, Griechen, Spartaner, Barbaren, Götter, Halbgötter und Mischwesen aus Tier und Mensch. Alle sind in den alten Mythen miteinander verwoben und werden immer wieder neu in Dramen und Tragödien auf die Bühne gebracht: von der Antike über Racine und Goethe bis Sartre und Christa Wolf – in stets neuen Deutungen und oft mit verändertem Handlungsablauf. Am vollständigsten versammelt ist dieser vielfältige Kosmos wahrscheinlich in den Stücken des Dichters Euripides, der 455 vor Chr. zum ersten Mal am Tragödienwettbewerb in Athen teilnahm. Dreiundsiebzig Stücke werden ihm zugeschrieben, erhalten sind davon neunzehn, manche fragmentarisch, eines gilt als apokryph. Die zweibändige Ausgabe sämtlicher Tragödien aus dem Kröner-Verlag hat einen Umfang von knapp 950 Seiten Text – eine immense Herausforderung für geduldige Menschen. Da ist es verführerisch, eine Zusammenfassung aller Stücke in einer nur knapp zweihundertseitigen Prosafassung zu lesen. Die von der französischen Gräzistin Mayotte Bollack vorgelegten Nacherzählungen sind aber weit von einer “Antike light”-Lektüre für schnelle Leser entfernt. Ihr Buch Dämonen und Drachen bietet pointiert zusammengefasste, hinreißend geschriebene Interpretationen.
Der Gewinn der Lektüre – über die Nacherzählung der Handlung hinaus – besteht in der Konfrontation mit einer Welt, auf die bis heute so viele zivilisatorische Errungenschaften projiziert werden und die doch verstörend fremd, brutal und barbarisch ist. Es schwindelt einen angesichts der raschen Abfolge von hochherziger Opferbereitschaft, stoischem Todesmut, großzügiger Gastfreundschaft, aber auch schicksalhaften Missverständnissen, grausamer Rache, missgünstigen tyrannischen Herrschern, neidischen, unzuverlässigen Göttern, gebrochenen Treueschwüren und grausamen Strafen, die der heutigen Moral so gänzlich zuwider laufen. Es ist, als sähe man die antiken Statuen in ihrer ursprünglichen, bunten Bemalung: weniger erhaben, aber sehr lebendig.
Die Autorin geht äußerst werkgetreu vor, ohne Euripides’ Texten etwas hinzuzufügen oder zu nehmen, aber sie schreibt “mit der Subjektivität, die mir eigen ist”. Ihre Paraphrasen halten zu dem dargestellten Geschehen eine wohltuende Distanz. Sie sagen immer beides: So war es damals, und so empfinden wir jetzt. Diese Spannung schafft Raum für eigene Interpretationen: Denn deutlich wird in Bollacks Texten auch, dass alles Nacherzählen und -dichten immer wieder Neuschöpfung ist. Dämonen und Drachen ist eine gleichermaßen anregende, erhellende und fesselnde Lektüre.
Ruth Roebke, Frankfurt a.M.