Zum Buch:
Die unter dem Titel Werke publizierten Texte von Velimir Chlebnikov – Poesie, Prosa, Schriften und Briefe – geben nicht nur einen umfangreichen Einblick in das Werk des trotz vielstimmiger Anerkennung und Ehrung durch andere DichterInnen immer noch wenig rezipierten Vertreter der literarischen Avantgarde des zwanzigsten Jahrhunderts. Das Buch lässt auch erkennen, dass eben jenes Werk viel weniger im Zeichen abgeschlossener oder abschließbarer Arbeiten stand als ein fortgesetztes, ständiges Arbeiten und Herumwerkeln an der Sprache selbst war.
Der vorliegende Band, eine Neuauflage der nach langjähriger Vorbereitung bereits 1985 erschienenen Edition, hat dafür eine konsequente Form gefunden: mit ÜbersetzerInnen wie Friederike Mayröcker, Paul Celan, Urs Widmer, Oskar Pastior, Ernst Jandl, Hans Magnus Enzensberger, Franz Mon und anderen finden die Texte ein vielstimmiges Nach- und Weiterleben. Gerade auch die Entscheidung, mehrere Übersetzungen des gleichen Texts zuzulassen, führt vor Augen, wie stark Chlebnikov insbesondere in seiner Lyrik an der Sprache arbeitet und wie diese Arbeit sich in der Übersetzung in das Deutsche eingräbt. Allein acht Varianten des Gedichtes „Kuznečik“ (Grashüpfer) versammelt die Ausgabe. Der transkribierten russischen Variante (dem Original) kommt dabei kein besonderer Stellenwert zu, vielmehr wird sie unterschiedslos zwischen den Übersetzungen abgedruckt. Um einen Einblick davon zu geben, wie dieses Arbeiten an der Sprache funktioniert, sei hier auf einen Vers verwiesen. „O lebedivo“ dichtet Chlebnikov einen Neologismus, der im Deutschen „Oh Beschwan“ (RZ), „O schwanings“ (Celan), „beschwan beschwampf“ (Jandl) oder „o schwansam“ (Pastior) den Schwan grammatikalisch umkreist, während Peter Urban neben einer Interlinearübersetzung eine zweite Übersetzung stellt, die allein das Lautliche des Russischen zum Ausgang nimmt und die Zeile mit „O lebet denn wohl“ übersetzt. Allein als Übersetzungsprojekt kann diese Ausgabe also als ein selten erreichtes Beispiel für die genaue und facettenreiche Arbeit an und in der Sprache angesehen werden. Noch dazu bieten Chlebnikovs Texte einen schnellen und auffallenden Witz, der das Arbeiten der Gedanken, das beim Lesen unmittelbar einsetzt, antreibt und vergnüglich macht.
Sein Ausdruck ist an der genauen Betrachtung der Alltagssprache geschult. In diesem Sinne ließe sich Chlebnikovs Poesie sowohl als Gegenprogramm als auch als Wegbereiter der „Fremdbüchersonette“ von Ann Cotten begreifen.
Auch wenn es etwas dauert, bis man sich im Buch mit den zahlreichen unterschiedlichen Text- und Satzarten zurechtfindet, lohnt sich die Geduld. Zudem bieten die Kommentare von Marie-Luise Knott und von Peter Urban zusätzliche Orientierung und spannende Einblick in das Leben des Autors, der von so vielen VertreterInnen der konkreten oder experimentellen Poesie als Vorgänger angesehen wird.
Theresa Mayer, Frankfurt a.M.