Zum Buch:
„Wie fühlen Sie sich? Geht es Ihnen gut?“
„Ob es mir gut geht?“
„Ja.“
„Ich bin in der Klapsmühle.“
„Na ja. Davon abgesehen, meine ich.“
Als sich die zwanzigjährige, hochbegabte Mathematikerin Alicia Western aus eigenem Entschluss in die offene Abteilung der Heil- und Pflegeanstalt „Stella Maris“ einweist, trägt sie nichts weiter mit sich als eine Plastiktüte voller Hundertdollarscheine – und ist von einem einzigen, eindringlichen Wunsch besessen.
„Was wären Sie gerne geworden, wenn nicht Mathematikerin?“
„Tot.“
Es ist nicht ihr erster Aufenthalt in „Stella Maris“. Alicia leidet neben auffälligen Verhaltensstörungen an paranoider Schizophrenie, wobei hinzukommt, dass sie bis vor kurzem noch allabendlich von einem glatzköpfigen, geschwätzigen Liliputaner und dessen skurriler Entourage, der Horte, aufgesucht wurde. Doch streitet sie vehement ab, dass es sich dabei um eine reine Halluzination handelte.
Im Verlauf mehrerer aufeinanderfolgender Gespräche mit dem behandelnden Arzt weigert sie sich zwar mehr und mehr, etwas über die Beziehung zu ihrem Bruder preiszugeben, der nach einem schweren Autounfall in Frankreich im Koma liegt und mit dem Tod ringt. Doch auf Fragen zum Rest ihrer Familie, besonders was den Vater betrifft, der einst für den Bau der Atombombe mitverantwortlich war und einsam und krank in einer Hütte in der Wüste starb, gibt sie bereitwillig Auskunft.
Manchmal raucht sie. Gibt herausfordernd schnippische Antworten und entschuldigt sich dann dafür. Manchmal weint sie, bricht das Gespräch ab. Die meiste Zeit aber lässt sie sich über die Unvollkommenheit menschlicher Existenz aus, der allein die unbeugsame Logik der Mathematik gegenübersteht; sie, die begnadete Violinistin, spricht über die makellose Reinheit von Klängen und Tönen und ist davon überzeugt, dass am Ende allen Seins lediglich die Musik weiterhin Bestand haben wird.
Auch über die Liebe an sich und deren Ausweglosigkeit spricht sie hin und wieder:
„Gut möglich, dass Liebe eine Geisteskrankheit ist.“
„Ist die Bemerkung ernst gemeint?“
„Ja.“
„Glauben Sie das?“
„Wahrscheinlich. Vielleicht auch nicht. Manchmal. Die Literatur ist nicht ermutigend. Die Erfahrung auch nicht.“
Kurz nach Erscheinen des Romans Der Passagier, der von Alicias Bruder Bobby handelt, mit dem sie eine inzestuöse Beziehung verbindet, legte Cormac McCarthy mit Stella Maris sogleich den zweiten Band seiner lang ersehnten literarischen Rückkehr vor. Allen Unkenrufen zum Trotz, die meinten, der Leser könne sich durch die Anhäufung zahlreicher unbekannter Namen oder oft nur schwer nachvollziehbarer Zusammenhänge aus dem Bereich der Wissenschaft überfordert fühlen: Stella Maris steht der Großartigkeit des ersten Teil in nichts nach.
Axel Vits, Köln