Zum Buch:
Am Anfang steht ein häusliches Kammerkonzert, ein großes Ereignis im Leben der Familie des Gefängnisdirektors und ein großes Ereignis im Leben der Gefängnisinsassen, die dabei sein dürfen. Ob die Gefangenen Kammermusik genauso lieben wie ihr Direktor, ist fraglich, nicht aber ihre Begeisterung angesichts all der Möbel und sonstigen Einrichtungsgegenstände, die sämtlich „ihre“, das heißt von ihnen angefertigt worden sind …
Mit diesem Paukenschlag sind wir mitten drin in der Familie des Protagonisten und in seinem Leben zwischen Gefängnis und Kammermusik, einem Leben mit einem so empfindsamen wie brutalen Vater, einer frustrierten Mutter und drei mehr oder weniger aufmüpfigen Brüdern. Mitten drin auch in den Szenen, die aus der Perspektive des 12jährigen erzählt und von seinem erwachsenen Ich subtil kommentiert werden, Szenen, die fast nicht auszuhaltende Brutalität genauso enthalten wie eine fast ebenso unerträgliche Erfahrung von Schönheit. Selge macht die graue Trübnis der fünfziger und frühen sechziger Jahre lebendig, die Folgen des Krieges und der unausgesprochenen Verstrickungen in den Nationalsozialismus, beschreibt die Versuche des Kindes, sich der kaum verstandenen Welt der Erwachsenen durch heimliche Kinobesuche zu entziehen. Der Junge träumt sich in eine Welt, in der er als fantasierter Held alle Schwierigkeiten überwindet und der am eigenen Leibe erlebten Gewalt fiktive Metzeleien an Angehörigen und „Feinden“ entgegensetzt. Dass ihm die kleinen Diebereien, mit denen er sich das Geld für den Kinobesuch zusammenklaut, wieder neue Prügel einbringen, ist ihm die Sache wert.
Edgar Selges mehr oder weniger autobiographischer Roman sprengt in seiner schockierenden Authentizität die gegenwärtig häufiger werden Versuche, die Nachkriegszeit zu romantisieren, so gründlich, dass es einem den Atem verschlägt. Das gelingt ihm vor allem durch eine nur scheinbar einfache, in Wirklichkeit hoch kunstvolle Sprache und die beeindruckende Montage. Wer die Zeit als Kind miterlebt hat, wird vieles wiedererkennen und gelegentlich von eigenen Erinnerungen überschwemmt werden. Allen anderen dürfte es zeigen, dass solche Erfahrungen keineswegs in ferner Vergangenheit liegen, sondern in verschiedenen Formen bis heute fortwirken. In jedem Fall sei die Lektüre dringend empfohlen!
Irmgard Hölscher, Frankfurt a.M.