Zum Buch:
Als Pädagogin an einer Grundschule, aber auch als Mutter und Partnerin kämpft sich Anna durch die Monate des Corona-Lockdowns und versucht ihre hohen Ideale von Mitmenschlichkeit und Güte im Miteinander aufrecht zu erhalten. Mit eindringlichen Szenen, an die sich die meisten noch aus eigener Erfahrung erinnern werden, versucht Anna den Verlust von Nähe und Vertrauen für ihre SchülerInnen so gut es geht auszugleichen. Ihre Kollegin, die man nie anders als tanzend und lachend erlebt hat, rennt bis zu Erschöpfung von Haus zu Haus, um ihre früher unerschöpflich scheinende positive Energie zumindest auf Abstand zu teilen.
Daran misst sich auch Annas eigenes Selbstbild. Bevor sie Lehrerin wurde, war sie als Clown Teil einer semi-politischen Gauklergruppe, die unter dem Namen UnRule OrKestrA am Rand von Demonstrationen auftrat. Ohne jegliche Ironie sieht Anna in ihrer Arbeit nicht nur eine Verlagerung dieser Rolle in den Klassenraum, sondern auch eine Weiterführung der Absicht des OrKestrA, Lebensfreude und Hoffnung weiterzugeben. Dabei kommt ihr nicht nur die eigene Verzweiflung, sondern auch ihre Wut in die Quere, die sich gegen die politischen Entscheidungen und das gesellschaftliche Klima der britischen Gegenwart richtet. Im Hintergrund steht aber auch die Erinnerung an einen Verrat, der die kleine Gauklergruppe und ihre Hoffnungen zerstörte:
Buster stieß in der Gestalt eines verlorenen Jungen zu der Gruppe junger Erwachsener und wurde, weil zunächst namenlos, aufgrund seiner komischen, aber auch geheimnisvollen Ausstrahlung von der Gruppe auf den Namen des bekannten Schauspielers Buster Keaton getauft. Nach einiger Zeit ist er ohne Ankündigung verschwunden; im Nachhinein stellt er sich als V-Mann der Polizei heraus, der die Gruppe nicht nur ausspioniert, sondern auch gezielt zu einer Straftat angestachelt hat, für die sich FreundInnen von Anna jetzt, in der Gegenwart des Romans, vor Gericht zu verantworten haben. Dort entdeckt Anna ihn, jetzt in einem völlig veränderten Aufzug, und eine Verfolgungsjagd beginnt. Für den genauen Ablauf der Tat, die Dimensionen des politischen Aktivismus, Rechtfertigungen von Militanz oder ähnliches interessiert der Roman sich nicht.
Was A.L. Kennedy hier verhandelt, ist vielmehr das Aufeinandertreffen von Anna, deren Gesellschaftskritik und pädagogischen Lehrstücke nicht selten an Kitsch grenzen, und Buster, dessen Einsatz als V-Mann eine Art Sucht nach Identitätslosigkeit in ihm auslöst. Hier stehen sich absolute emotionale Distanz und enthusiastisch-idealistische Emotionalität gegenüber. Briefe, die wenige Tage nach der Verhandlung vor Annas Tür liegen, geben Aufschluss über das weitere Leben und das immer karger werdende Innenleben ihres früheren Freundes. In typischer Kennedy-Manier konfrontiert uns der Roman mit zwei Figuren, von denen wir nie so richtig sagen können, ob wir mit ihnen sympathisieren oder nicht. Die Gesellschaftskritik, die der Roman, vermittelt durch Annas Erzählstimme, formuliert, lässt sich sicher nicht bruchlos als Meinung der Autorin lesen; gerade aber in dieser vermittelten, streng subjektiven und sicher nicht lückenlosen Form verstärkt sie die Gegenwärtigkeit der in ihr spürbar drängenden Fragen: nach Moral, nach Gemeinschaft und Verantwortung, aber auch nach Aktivismus, Solidarität und Aktion.
Theresa Mayer, Frankfurt a.M.