Zur Autorin / Zum Autor:
Nicolas Mathieu wurde 1978 in Épinal geboren und lebt in Nancy. Sein erster Roman erschien 2014 und wurde für das Fernsehen adaptiert. Wie später ihre Kinder wurde 2018 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet.
Rose, eine gestandene Frau von bald fünfzig Jahren, hat sich dazu entschlossen, mit dem Rest ihres Lebens etwas anzufangen, das nicht von einem übergriffigen Partner fremdbestimmt ist. Sie will Liebe. Aber so, wie Rose sie versteht: Sie will das Funkeln zurück. Angst hat sie längst keine mehr – denn neuerdings trägt sie eine Waffe in ihrer Handtasche.
(ausführliche Besprechung unten)
Rose geht am frühen Abend ins Royal, eine Bar in Nancy, setzt sich an den Tresen, bestellt ein erstes Bier, raucht, blättert lustlos in einer Tageszeitung und plaudert währenddessen ebenso lustlos mit Fred, dem Barbesitzer. Rose geht auf die Fünfzig zu, doch das sieht man ihr wirklich nicht an. Sie hat zwar jenes Alter erreicht, in dem sich die verbliebene Frische, das Funkeln im Alltag aufzulösen scheint. Doch sind dies in ihren Augen nur die Begleitumstände eines von Prüfungen reichen Lebens – eine Scheidung, zwei erwachsene Söhne, Jobwechsel, kurze, schmerzhafte Liebschaften, Schicksalsschläge –, das sie zudem in ausreichendem Maße hart gemacht hat. Sie ist an einem Punkt angelangt, an dem sie sich nicht mehr bereit sieht, wehrlos gegenüber der Unerbittlichkeit von Männern zu sein, die ein Nein nicht akzeptieren wollen. Weshalb sie sich kürzlich eine Waffe besorgt hat, eine Pistole, die sie – als Gefährtin – stets in ihrer Handtasche mit sich trägt.
Eines Abends lernt sie durch einen Zufall Luc kennen, einen schweigsamen, eher zurückhaltenden Mann. Luc hat ähnliche Erfahrungen hinter sich gelassen wie sie, und auch er ist ein erfahrener Trinker, der seinen Konsum nicht kommentiert.
Ihre erste Begegnung verläuft etwas schleppend, Rose übernimmt das Reden. Später landen sie zwar im Bett, doch klappt es nicht wirklich gut. Ein Zustand, über den Luc nicht reden will. Irgendwann, als sie das Thema anspricht, schlägt er sie, doch gewinnt er sie durch seinen spröden Charme bald wieder zurück. Von da an begnügen sich die beiden mit ihrer neugewonnenen Zweisamkeit, der Alkohol ist das Schmiermittel, die Zuflucht, hinter der sie ihre Wünsche verbergen. Bis eines Nachts Rose den einen Schritt zu weit geht und Luc erneut mit dessen Versagen konfrontiert. „Die Liebe stirbt, wenn man die Archive öffnet“, wie es im Buch heißt.
Nach seinem überragenden Erfolg Wie später ihre Kinder, für den er mit dem renommierten Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, hat der französische Schriftsteller Nicolas Mathieu nun einen schmalen, keine hundert Seiten starken Roman vorgelegt, der auf subtile Weise jene Abgründe offenlegt, die sich unter dem täglich dicker werdenden Firnis unausgesprochener Begierden und nicht mehr hinnehmbarer Erniedrigungen verbergen. Seine Protagonistin hat alles gesehen, alles erlebt und ist nicht mehr willens, einzustecken. Doch auch sie ist im Grunde Täterin, mit dem Unterschied, dass sie jederzeit bereit ist, für ihr Aufbegehren einzustehen. Mathieu hat mit Rose keine tragische Figur im klassischen Sinne erschaffen, doch mit ihrem unbändigen Willen auszubrechen, bleibt sie noch lange nach der Lektüre im Gedächtnis der Leserin bzw. des Lesers.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln