Zum Buch:
Veras Geburtstagsfeier im Kibbuz steht unter dem Schatten eines Geheimnisses. Auch wenn die 90-Jährige über das nicht Erzählte scheinbar hinwegzugehen in der Lage ist, prägt es sie genauso wie ihre gesamte Patchworkfamilie. Das gilt mit Sicherheit für ihren Stiefsohn Rafael und vor allem für ihre Tochter Nina, die in ganz besonderer Weise von dem Wissen um etwas, das nicht laut werden kann, geprägt ist. Ihr Leben ist eine einzige Flucht, ein Kampf gegen Nähe. Rafael und Nina sowie ihre gemeinsame Tochter Gili mühen sich an der Last einer unerzählten Vergangenheit ab. Die Toten sind in dieser Familie ständig präsent, besonders Veras erster Mann Miloš, Ninas Vater, mit dem sie weiterhin eng verbunden ist. Die Geschichte klingt komplizierter, als sie beim Lesen erscheint. Grossmann-Leser*innen kennen das: es gelingt ihm, die Vielschichtigkeit und Unordnung des Lebens zugleich erfahrbar und zugänglich zu machen.
Eine Reise nach Kroatien soll es möglich machen, Veras Geschichte zu erzählen. Gili ist ebenso wie ihr Vater Rafael Filmemacherin, sie will aus der Erzählung ihrer Großmutter einen Film machen, der zugleich ihre Herkunft klären und Licht in die giftigen Nebel bringen soll. Zu viert reisen sie nach Kroatien, um Veras Erzählung über ihre Lagerhaft auf der Insel Goli im Film festzuhalten. Dass auch ihre Mutter Nina auf dramatische Weise von dieser Haft betroffen war, ignoriert Gili – jedenfalls zunächst. Der Leser weiß das, obwohl es erst spät ausdrücklich erzählt wird.
Vorbild für die Vera in diesem Roman ist Eva Panic-Nahir, und man könnte meinen, es ginge vor allem um die Geschichte der empörenden Verfolgung von als Stalinisten denunzierten Menschen, die in Jugoslawien gegen die Nazi-Besatzung gekämpft und als Juden den Krieg überstanden haben. Eva Panic-Nahir war eine Heldin, und das bleibt auch in der fiktionalen Erzählung eine selbstverständliche Tatsache. Aber ihre über den Tod hinausgehende, bedingungslose Liebe zu ihrem ersten Mann Miloš, die alles andere an die Seite drängt, lässt auch die politische Dimension wie eine Nebensache erscheinen. Wie nebenbei wird der Kampf gegen die deutschen Besatzer erzählt, vor allem Miloš‘ Status als Held in Titos Armee. Die politische Geschichte erscheint als Rahmen ihrer Liebesgeschichte, die nicht zuletzt aus Veras Mühen um das Leben ihres Mannes besteht, der immer krank und verletzt war. All das ist die Vorgeschichte zum Kernproblem dieser komplizierten Familie.
Die Familiengeschichte, die Grossmann erzählt, ist um das Trauma des verlassenen Kindes Nina organisiert. Miloš hatte sich nach seiner und Veras Verhaftung durch Titos Polizei im Gefängnis erhängt. Vera erfuhr bei ihrem Verhör von seinem Tod und sollte unterschreiben, dass Miloš und sie „Stalinisten“ und Volksfeinde seien. Sie verweigerte die Unterschrift, nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen ihrer unbedingten Liebe zu Miloš, dessen Andenken nicht beschmutzt werden sollte, und kam deshalb ins Straflager. Ihre Tochter Nina blieb allein zurück. Darüber hat Vera später nie gesprochen.
Die Erzählung leuchtet das Fortwirken der Verlassenheit bei allen Beteiligten – und alle Protagonist*innen haben Erfahrung damit – aus unterschiedlichen Perspektiven und auf verschiedenen Ebenen aus. Die Handlung trägt teilweise Züge eines Roadmovies und protokolliert die von Widrigkeiten geprägten Dreharbeiten. Nicht zuletzt geht es um die Geschichte der Annäherung zwischen Nina und Gili. Diese Liebe zwischen Mutter und Tochter ist ebenso unmöglich, wie die zwischen Rafael und Nina. Ein gewaltiger Gewittersturm auf der verlassenen Gefängnisinsel wird zur angemessenen Kulisse für die dramatischen Ereignisse, Erinnerungen und Gespräche. Am Ende geht der Dokumentarfilm verloren.
Was ist das eigentliche Thema dieses Romans, den Grossmann ausdrücklich eine Hommage an Eva Panic-Nahir nennt? Vera, die aus der realen Person entwickelte Gestalt, ist von unbegreiflicher Härte und Gefühllosigkeit gegenüber ihrer Tochter und zugleich von bedingungsloser Aufopferung gegenüber ihrem geliebten Miloš bestimmt. Es gäbe gute Gründe, diese Person aus ethischen Gründen abzulehnen. Aber sie hat eine herzliche und freundliche Aura. Ist das Thema die bedingungslose Liebe, die alle anderen Menschen unwichtig macht? Oder ist es das Trauma, das die Generationen aneinander bindet? Es könnte auch sein, dass es schlicht darum geht, dass Heldinnen Menschen sind, die ganz andere Motive für ihre Standhaftigkeit haben, als es scheint.
Gottfried Kößler, Frankfurt