Zum Buch:
Dieses Buch ist ein Tagebuch, das zugleich ein Gedenkbuch ist. „Es ist für alle, die trotz des Entsetzens die Hoffnung nicht aufgeben und an ein gutes Ende glauben.“ Es ist nicht einfach noch ein Buch über die Lage im Nahen Osten. Lizzie Doron eröffnet den LeserInnen in Deutschland die Chance, die Erfahrung der Ausweglosigkeit ein Stück weit nachzuvollziehen, in der Israelis leben. Dass damit nicht nur jüdische Israelis gemeint sind, muss in Deutschland dazu gesagt werden. Israelische Staatsbürgerschaft ist – noch – nicht an die Religion gebunden. Die Autorin ist jüdisch, sehr bewusst und reflektiert.
Treue LeserInnen kennen Lizzie Doron als reflektierte Tochter von Überlebenden der Shoah, haben ihre Beschreibung der Möglichkeiten von Freundschaft zwischen jüdischen Israelis und arabischen PalästinenserInnen als ermutigend gelesen. Sie bleibt nah an den Menschen, verfolgt ihren Alltag, vor allem in Tel Aviv/Jaffa, erzählt von den oft skurrilen Wegen, mit den Verletzungen durch vergangene Verbrechen oder auch durch die aktuellen Diskriminierungen umzugehen.
Das Tagebuch beginnt mit dem Alarm am frühen Morgen des 7. Oktober 2023. Die Lesenden bleiben von diesem Moment an neben der Schreibenden. So ist es möglich, die wachsende Bedrohung und kurz darauf den zunehmenden Zorn und die Verzweiflung wahrzunehmen. Zwischen Luftschutzkeller und Wohnung, online-Treffen mit der Tochter und den Enkeln wird deutlich, dass der Alltag zerfällt. Immer wieder kommen Nachrichten, die den Tod von Freunden und Bekannten melden. Die Erzählerin beginnt, Nachrufe zu schreiben. Eine Gruppe von Freiwilligen organisiert ein Erinnerungsprojekt für die Opfer des Massakers, so hat das Schreiben einen Sinn. In dem Jahr, das Doron mit diesem Tagebuch dokumentiert, wird diese Arbeit nicht ausgehen.
Bald beginnen die Demonstrationen gegen die Netanjahu-Regierung, gegen den Krieg in Gaza – und vor allem für die Befreiung der Geiseln. Die Hilflosigkeit wird zur Grunderfahrung in diesem Jahr, alte AktivistInnen der Friedensbewegung treffen sich bei den Demos, aber die Hoffnung auf eine Änderung der Regierungspolitik schwindet. Auf dem „Platz der Geiseln“ im Zentrum von Tel Aviv beobachtet die Tagebuchschreiberin, wie Gedenken und Demonstrationen zu einem Ritual werden, das als Touristenattraktion vorgeführt wird. Beziehungen zwischen arabischen und jüdischen Israelis zerbrechen, die Gesprächsfäden reißen. Das Treffen mit einem Freund, mit dem sie in den Kämpfen für den Traum vom Frieden, für das Zusammenleben von palästinensischen und jüdischen Bewohnern der Region verbunden ist, endet im Verstummen. Seine Lebenspartnerschaft mit einer israelischen Araberin ist zerbrochen. „‘Am 7. Oktober war es aus‘, sagt er.“
Auf Besuch in Berlin, wo die Familie einen Zweitwohnsitz hat, ist die Erfahrung der Polarisierung greifbar. Schon vor der Ankunft kommt die Warnung, im Taxi Hebräisch zu sprechen, weil es so viele arabische Fahrer gebe. Die alte Bekannte, die undifferenziert allein die Juden als Opfer betrachtet, gelbe Bänder in die Stadt hängt, all das verstärkt die Befremdung, den Verlust von Sicherheiten.
Bei der Vorbereitung zum monatlichen Familientreffen an einem Freitagabend bricht Streit mit dem US-amerikanischen Cousin aus. Er bezeichnet das israelische Vorgehen in Gaza als Genozid. Erst nach einigen Monaten öffnet die Tagebuchschreiberin seine Emails, die er regelmäßig schickt. Sie enthalten ausschließlich Berichte von den Kriegsverbrechen der israelischen Armee in Gaza. Doron setzt sie in anderer Schrift als Dokumente in den Tagebuchtext. Sie zeigen, dass die Welt, die es vor dem 7. Oktober gab, nicht mehr existiert.
Ganz zum Schluss erfahren wir, dass das Schreiben für die Autorin noch viel weniger selbstverständlich war, als die Tagebuchschreiberin es darstellt. Doron berichtet von dem Verlust des Schreibens in den ersten Stunden und Tagen nach dem Morgen des 7. Oktober, vom Verstummen. Dass sie dieses Buch doch geschrieben hat, versteht sie als Warnung, sie will zeigen, „wohin Hass führt, Siegesträume, wahnhafte Politiker und messianische Fantasten“.
Für diejenigen, die Lizzie Dorons Bücher nicht kennen, ihre Interviews nicht gelesen haben, muss gesagt werden, dass sie wirklich alle Fantasten meint, nicht nur die auf einer Seite. So ist dieses Tagebuch eine Aufforderung, hinzuschauen.
Gottfried Kößler, Frankfurt a. M.