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Nulluhrzug

Autor
Buida, Juri

Nulluhrzug

Untertitel
Roman. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Beschreibung

In einer kleinen sibirischen Gulag-Siedlung an einer Bahnstrecke zählt das Wohl und Wehe der Menschen wenig – den Rhythmus gibt ein Zug vor, der jede Nacht die Strecke passiert und um den sich das Leben der Menschen im Streckenabschnitt dreht. Wie weit sie gehen, um in diesem engen Gerüst handlungsfähig zu bleiben, was sie riskieren und welche Grenzen sie zu überschreiten versuchen, ist das Thema dieses – ja, existenzialistischen Romans. Im Original erschien Nulluhrzug von Juri Buida bereits 1993 und liegt jetzt in deutscher Übersetzung vor.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Aufbau Verlag, 2020
Seiten
142
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-351-03785-7
Preis
18,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Juri Buida wurde 1954 in Snamensk, im Kaliningrader Gebiet, geboren. Nach dem Studium in Kaliningrad war er Fotojournalist, Journalist und stellvertretender Chefredakteur einer Regionalzeitung. Seit 1991 lebt Buida in Moskau, wo er für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften tätig ist. Er veröffentlichte seitdem mehrere Romane und Erzählungen, die vielfach ausgezeichnet wurden.

Zum Buch:

In einer kleinen sibirischen Gulag-Siedlung an einer Bahnstrecke zählt das Wohl und Wehe der Menschen wenig – den Rhythmus gibt ein Zug vor, der jede Nacht die Strecke passiert und um den sich das Leben der Menschen im Streckenabschnitt dreht. Wie weit sie gehen, um in diesem engen Gerüst handlungsfähig zu bleiben, was sie riskieren und welche Grenzen sie zu überschreiten versuchen, ist das Thema dieses – ja, existenzialistischen Romans. Im Original erschien Nulluhrzug von Juri Buida bereits 1993 und liegt jetzt in deutscher Übersetzung vor.

Am Streckenabschnitt 9 einer Eisenbahnlinie leben und arbeiten Jüdinnen und Juden und Kinder von Volksfeinden. Ihre Aufgabe ist es, die Strecke in Ordnung zu halten und den jede Nacht pünktlich um null Uhr passierenden Zug über Funk zu melden. Im Zentrum der Handlung steht der Eisenbahner Don Domino, eigentlich Iwan Arbadjew, der als Kind von Volksfeinden im Heim aufwuchs und dort gelernt hat, seine Eltern zu verachten. Er liebt die verheiratete Jüdin Fira. Eines Tages verschwindet deren Mann Michail, der Stationsvorsteher. Einen Oberst, der Fira Avancen macht, ermordet Don Domino und kann nun endlich mit der Geliebten zusammen sein und darüber hinaus Stationsvorsteher werden. Das Glück aber währt nicht lange; scheinbar unbeeindruckt vom Tun der Menschen bestimmt der Zug den Rhythmus der Siedlung.

Man könnte die Geschichte als Allegorie auf die Sowjetmacht lesen: Der Zug, gelenkt von einer nicht greifbaren Macht, passiert jede Nacht zur gleichen Zeit den Streckenabschnitt. Keiner weiß, ob er Gutes oder Schlechtes bringt, ob er Filzstiefel, Holz oder gar Menschen transportiert. Die Menschen an der Strecke haben nichts weiter zu tun, als dafür zu sorgen, dass der Zug ohne Störung passieren kann und über Funk seine Anwesenheit zu bestätigen. Diejenigen, die es mit ihm aufnehmen oder versuchen, seinen Sinn zu ergründen, gehen daran zugrunde – sie sterben oder verschwinden ganz einfach, als hätte es sie nie gegeben. Fragen nach dem Sinn ihres Handelns stehen ihnen nicht zu und sind im Übrigen auch zwecklos. Ein einziges Mal entgleist der Zug. Sofort wird die Unfallstelle abgeschirmt, das Militär beseitigt alle Spuren, und am nächsten Tag fährt der Zug wie ehedem, als wäre nichts gewesen.

Zwar leben die Menschen am Streckenabschnitt, verlieben sich, schlafen miteinander, essen und trinken, aber im Grunde spielt das alles keine Rolle, der Zug und seine geheimnisvolle Macht überblenden alles. Am Ende des Romans jedoch verändert sich die Situation, als plötzlich mehrere Züge hintereinander passieren, über Funk keine Handlungsanweisungen mehr kommen und eine Explosion ausgelöst wird. Ein winziger Funken Handlungsmacht liegt plötzlich vor Don Domino – oder ist auch das nur Schein und von oben gelenkt? Statt einer Befreiung erwartet die Protagonisten auch danach nur Leere. Ist das ein Bild für den Postkommunismus in Russland? Viele Möglichkeiten sind denkbar bei diesem allegorischen Roman, das Schöne aber ist, dass Buidas Absurde sich der letztendlichen Auflösung entzieht, und dennoch so klar vom Russland im 20. Jahrhundert erzählt.

Es sind Nicht-Zeit und Nicht-Ort der Dystopie, die Buida hier beschreibt. Und wie er sie beschreibt! Lakonisch, brachial, kalt sind die Beschreibungen und dann wieder überraschend zärtlich und lebendig. Ein Buch wie ein Holzschnitt, ohne Details und vor allem ohne Klärung, und doch hat man nach der Lektüre das Gefühl, eine Menge gelernt zu haben – über die Sowjetunion, über Russland und über das Leben.

Alena Heinritz, Münster