Zum Buch:
1985, als in den westlichen Ländern Wohngemeinschaften als progressive Lebensform gelten, wünschen sich die Protagonisten in Katerina Poladjans neuem Roman Zukunftsmusik nichts mehr, als der Kommunalka in einer heruntergekommenen Gründerzeitwohnung zu entfliehen, in der sie zwangsweise zusammen leben. Hier wohnen in einem Zimmer Warwara Michailowna, ihre Tochter Maria Nikolajewna, die Enkelin Janka und deren Tochter Kroschka. Warwara Michailowna, Hebamme im Ruhestand, geht unverlangt weiterhin zur Arbeit, Maria Nikolajewna bewacht im Museum für Natur- und Völkerkunde die Säle mit einem ausgestopften Mammut, mit Elchen und Lemmingen. Janka arbeitet Schicht im Glühbirnenwerk. Ihre Sehnsüchte, ihre Wut und Energie verwandelt sie in Lieder, die sie zur Gitarre singt – die gerade heute, wo sie in der Wohnung ein Konzert geben will, kaputt ist. Kroschka, ihre Tochter, die zwei Väter hat, wird von allen nachlässig, aber liebevoll versorgt. Dann gibt es den unergründlichen Matwei Alexandrowitsch, der Maria umständlich den Hof macht, Ippolit Iwanowitsch Kosolapij, der die dienstliche Abwesenheit seiner Frau dazu nutzt, mit Warwara ins Bett zu gehen, den alten Professor, der alleine in seinem 6-qm-Zimmer lebt. Man begegnet sich in der großen Küche, teilt sich das Badezimmer, hört die Geräusche der anderen und kennt ihre Gewohnheiten. Am hintersten Ende der Wohnung – wo man besser nicht hingeht – leben die Karisen, die niemand je zu Gesicht bekommt. Einzig der immer auf dem Herd köchelnde Topf mit Reis und Fleischstücken, in den alle mal den Löffel stecken, und die Annahme, sie seien es, die nächtens die schmutzigen Hinterlassenschaften der anderen Bewohner wegputzen, zeugt von ihrer Anwesenheit.
Die gesamte Handlung spielt an einem Tag, dem 11. März 1985. Wer morgens das Radio einschaltet, hört an Stelle des normalen Programms den Trauermarsch aus Chopins 3. Klaviersonate – ein sicheres Zeichen, dass eine wichtige Persönlichkeit gestorben ist. Jeder ahnt, wer es ist, den Namen wird niemand nennen, bevor er nicht offiziell verkündet wird.
Soweit die Oberfläche. Was das Buch weit über diese hinaushebt, ist die Meisterschaft, mit der Katarina Poladjan diesen kleinen Kosmos „tausende Werst (…) östlich von Moskau…“ zu einem Brennpunkt sowjetischen Alltags macht. Ein paar Dialogzeilen genügen, um eine Person zu charakterisieren, aus nur wenigen Sätzen entstehen komplexe Situationen. Die Autorin spielt mit literarischen Zitaten und musikalischen Verweisen, die den tristen Alltag durch Poesie und Humor erträglich machen. Im Laufe der Erzählung verwischen zunehmend die Grenzen zwischen Realität und Surrealismus. Da werden Sätze von einer Person begonnen und von einer anderen weitergeführt, öffnet sich in der Gegenwart mit ein paar Worten plötzlich ein Fenster in die Zukunft – und das alles leichtfüßig und in einer ausgesucht schönen Sprache. So endet dieser 11. März 1985, der mit einem Trauermarsch begann, mit einer unbestimmten Hoffnung – von der wir heute wissen, dass sie nicht von Dauer war.
Ruth Roebke, Frankfurt a.M.