Anlässlich unseres damals zwanzigjährigen Jubiläums veröffentlichte die Frankfurter Rundschau am 20.6.1998 den folgenden Beitrag von Paul Parin:
Seit 20 Jahren Gast bei “Land in Sicht”
Schöne Literatur und das Wissen, daß Kultur nie unpolitisch sein kann:
Zum Jubiläum einer Frankfurter Buchhandlung
Am 3. August 1979, wenig mehr als ein Jahr nach der Gründung der selbstverwalteten Buchhandlung “Land in Sicht” , wurde ich zu einer Lesung eingeladen. Am 3. November las ich dort über “Psychoanalyse und Politik” , anschließend gab es eine engagierte Diskussion mit jungen und alten, auch sehr jungen und sehr alten Hörerinnen und Hörern.
“Ich” , das war damals nicht ich allein, zusammen mit Fritz Morgenthaler und Goldy Parin-Matthey waren auch wir, Forscher und Autoren, ein “Kollektiv” wie die Buchhandlung.
Wir sind zehnmal in “Land in Sicht” zu Gast gewesen. Ein Jahr nach meinem ersten Vortrag hat Morgenthaler seine neue Sexualtheorie vorgestellt, und zuletzt, im Herbst 1996, hat Ursula Rütten, die eine Werkbiographie über uns geschrieben hat, mit mir und dann mit dem Publikum diskutiert.
Es war eine Freundschaft entstanden, und mehr als das. In Frankfurt handelte es sich nach dem Herbst 1977 darum, die Ideen der Kritischen Theorie und den “Geist” der 68er Jahre zu bewahren und kritisch weiterzutreiben, dort wo er sich noch legitim entfalten konnte – in Büchern. In einer eigenartigen Konvergenz hatte unsere Gruppe seit 1955 die gleichen Ideen in ethnopsychoanalytischen Studien angewandt und erprobt, bevor wir Horkheimer und Adorno überhaupt gelesen hatten. Unser zweiter umfangreicher Bericht war 1971 bei Suhrkamp erschienen und hieß im Untertitel “Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika”.
Nachdem wir die Forschungen in Afrika aufgeben mußten, haben wir Probleme der abendländischen Kultur (Protest und Revolte, staatliche Repression, Subkulturen etc.) mit dem zivilisationskritischen Ansatz der Psychoanalyse Freuds und mit der dialektischen Theorie konfrontiert, nicht ohne beide zu verändern oder zu erweitern. Die Einleitung der Lesungen von Dieter Schiefelbein und die Diskussionen haben uns zahlreiche Impulse gegeben, wie auch unsere Beiträge als Weichenstellung für die Buchhandlung gedient haben mögen.
Für mich war es ein Glücksfall, daß ich als erzählender Schriftsteller immer wieder eingeladen wurde: eine Buchhandlung, die zeitgenössische “schöne” Literatur auswählt und die weiß, daß Kultur nie unpolitisch sein kann. Ein besonderes Zeichen von Freundschaft war, daß “ Land in Sicht” 1988 Bilder von Morgenthaler ausgestellt hat und sein Sohn Marco, Goldy Parin-Matthey und Ruth Morgenthaler aus seinen nachgelassenen Texten gelesen haben.
Die Buchhandlung ist groß und schön eingerichtet, die Lesungen ziehen aber so viele an, daß trotz der eleganten Bestuhlung doch einige auf dem Boden sitzen müssen. In Frankfurt haben wir die weitaus größte Gemeinde von beteiligten Lesern und Leserinnen in einer deutschsprachigen Stadt gefunden. “Land in Sicht” hat für uns etwa die Bedeutung, die im 19. Jahrhundert manche Verleger für Autoren hatten, die sie förderten.
Nach einem Wort in der Zeitschrift Der Spiegel ist die Psychoanalyse ein “ Überbleibsel” der Aufklärung. Es ist kein Zufall, daß die Psychoanalyse – eine späte Frucht der Aufklärung – in dieser Buchhandlung die intensive Zusammenarbeit zwischen Autoren und Lesern zustande gebracht hat.
“Land in Sicht” arbeitet ohne jenen resignativen postmodernen Leerlauf, wirkt ohne einen Rückhalt in Universitäten oder “europäischen” Gremien über Grenzen hinweg und ist – ebenso wie ihre Gäste – der Aufklärung verpflichtet geblieben.
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