Sachbuch

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Buchempfehlungen Sachbuch

Autor
Albrecht, Julia; Ponto, Corinna

Patentöchter

Untertitel
Im Schatten der RAF - ein Dialog
Beschreibung

Manche Bücher sollte man einfach gelesen haben – „Patentöchter“ ist so eins. Es erzählt von den nie verheilten Wunden, die ein und dieselbe Tat zwei Frauen zugefügt hat, damals vor 35 Jahren, als der Bankier Jürgen Ponto in seinem Haus in Oberursel erschossen wurde.

Verlag
Kiepenheuer & Witsch Verlag, 2011
Format
Gebunden
Seiten
224 Seiten
ISBN/EAN
978-3-462-04277-1
Preis
18,99 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Julia Albrecht, Jahrgang 1964, hat in den vergangenen 15 Jahren in Berlin, Jerusalem und San Francisco gelebt und sowohl als Journalistin wie auch als Juristin gearbeitet. Mit ihrem Mann und ihren Kindern lebt sie heute wieder in Berlin.

Corinna Ponto war nach Theater- und Musikstudium in New York, Köln und Frankfurt Opernsängerin. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Süddeutschland. Ab 2011 wird sie im Kuratorium der Jürgen Ponto-Stiftung zur Förderung junger Künstler mitwirken.

Zum Buch:

Manche Bücher sollte man einfach gelesen haben – „Patentöchter“ ist so eins. Es erzählt von den nie verheilten Wunden, die ein und dieselbe Tat zwei Frauen zugefügt hat, damals vor 35 Jahren, als der Bankier Jürgen Ponto in seinem Haus in Oberursel erschossen wurde. Susanne Albrecht, Tochter eines Jugendfreundes von Ponto, hatte dem RAF-Kommando Zutritt zum Haus verschafft. Dass er Susanne vertrauensvoll die Tür öffnete, wurde Jürgen Ponto zum Verhängnis. Die Familien kannten sich lange: Ponto war der Patenonkel von Susannes jüngerer Schwester Julia, seine Tochter Corinna die Patentochter von Hans-Christian Albrecht. Der Mord zerstörte das bisherige Leben beider Familien, er zerriss die Freundschaft, die sie verband. Eine jede blieb für sich allein: die Albrechts mit dem Entsetzen, das eine Tochter über sie gebracht hatte, die Pontos mit dem Schmerz über den ermordeten Mann und Vater. Es ist eine der grausamen Folgen dieser Tat, dass sie beiden Familien die Chance nahm, den Schmerz gemeinsam zu ertragen, gemeinsam zu trauern.

Gut dreißig Jahre währten Schweigen und Sprachlosigkeit. Bis Julia Albrecht sich entschloss, den Kontakt zu Corinna Ponto aufzunehmen. Nach der ersten Begegnung entspann sich zwischen den beiden Patentöchtern ein Briefwechsel, aus dem das vorliegende Buch hervor gegangen ist. Bemerkenswert ist, dass hier zum ersten Mal Angehörige der Täter- und der Opferseite in einen Dialog miteinander getreten sind. Ergreifend ist, mit welch vorsichtiger Rücksichtnahme und geradezu waghalsiger Wahrhaftigkeit Julia Albrecht und Corinna Ponto sich einander annähern. Sie starten von diametral entgegen gesetzten Polen aus. Das Verbrechen zwängte die eine in die Opferrolle, die sie nicht wollte. Corinna Ponto, damals zwanzig, flüchtete weit weg und ins Verdrängen. Julia Albrecht dagegen, damals dreizehn, sah sich als „Schwester von …“ dazu verdammt, auf der Täterseite zu stehen. Schuldgefühle, Scham und Schmerz versperrten ihr den Blick auf ihr eigenes Auch-Opfer-sein. „Patentöchter“ erzählt eine Geschichte von Schmerz, Tod und Verlust. Aber auch, dass – und wie – die durch die Tat aufgerissenen Gräben überwunden werden können.

Bei der Verarbeitung der Geschichte der RAF spielten die Opfer-Angehörigen bislang kaum eine Rolle. Der Fokus des Interesses richtete sich fast ausschließlich auf Leben und Motive der Täter. Die mediale Empathie galt ihnen, während die Toten und deren Angehörige Objekte der Verdrängung waren (und sind). In Italien, das fast 500 Terroropfer zu beklagen hat, erklärte Staatspräsident Napolitano vor ein paar Jahren den 9. Mai zum nationalen „Tag der Erinnerung“. In Deutschland existiert nicht einmal eine Gedenktafel. Umso bedeutsamer ist es, dass nun Stimmen wie die im vorliegenden Buch zu hören sind. Corinna Ponto insistiert zudem darauf, dass bis heute keine unabhängige historische Position zur Geschichte der RAF existiert, die öffentliche Wahrnehmung durch den von den Medien geschaffenen „RAF-Mythos“ bestimmt ist. Sie meint damit nicht nur die sensationsheischende Aufbereitung der zentralen Figuren der RAF, sondern stellt Fragen nach denjenigen, die womöglich hinter den Anschlägen standen. Monatelanges Studium von Stasi-Akten bestärkte sie in dem Verdacht, dass die RAF-Terroristen an der Strippe östlicher (und westlicher) Geheimdienste hingen.

Es sei hier an den Prozess gegen Verena Becker erinnert, der seit letztem Oktober in Stuttgart-Stammheim läuft. Nicht nur im Falle der Ermordung von Generalstaatsanwalt Siegfried Buback ist ungeklärt, wer ihn, den Fahrer und seinen Bodyguard tatsächlich erschossen hat. Bei acht weiteren Anschlägen, die pauschal einer „dritten RAF-Generation“ angelastet wurden, fehlt bis heute ein Täter. Corinna Ponto, Michael Buback und Jörg Schleyer richteten deshalb im September 2010 einen offenen Brief an die Bundeskanzlerin. Sie forderten die Einsetzung einer internationalen Experten-Kommission zur Aufarbeitung des RAF-Terrors und die Öffnung aller bislang geheimen Archive. Die Antwort? Sie lässt bis heute auf sich warten.

Michaela Wunderle, Frankfurt am Main