Zum Buch:
Banlieue werden die Vorstädte um die französischen Metropolen genannt. Der lateinische Ursprung bannum leucae: bedeutet Bannmeile, und danach ist das neueste Buch von Anne Weber betitelt. Eine Bannmeile wird um etwas zu Schützendes gelegt. Hier ist es das „eigentliche“ Paris, die Bezirke, die innerhalb des Périphérique liegen. Die gigantischen Wohnanlagen außerhalb, in denen von vornherein sozial Benachteiligte, Zugezogene aus den (ehemaligen) Kolonien und Migranten wohnen, waren und sind häufig soziale Brennpunkte. Versuche, sie durch weitere Bauprojekte mit „Paris“ zu verbinden, sind fehlgeschlagen. Dem neuesten, dem Olympischen Dorf, das nach den Spielen zu einem Wohnviertel werden soll, steht das gleiche Schicksal bevor.
Als Thierry, ein Freund der Erzählerin, der für einen Dokumentarfilm über die Olympia-Sportstätten recherchiert, ihr vorschlägt, sie bei seinen Streifzügen durch die nördlichen Vorstädte zu begleiten, sagt sie zu. Thierry ist in Frankreich geboren, sein Vater war Algerier, seine Mutter Französin. Er ist in der Banlieue aufgewachsen und lebt dort noch immer in einem Haus in einer ruhigen Seitenstraße. Ihn interessieren an dem geplanten Filmprojekt weniger die Baustellen als deren Umgebung und die Menschen, die von ihnen betroffen sind.
Einen Winter lang bis ins Frühjahr hinein durchstreifen die beiden auf über 20 Kilometer langen Wanderungen Bezirke, die von Autobahnen und Ausfallstraßen durchzogen werden, die man unmöglich überqueren kann. Dazwischen eingeklemmt sind Siedlungen mit riesigen Wohnblocks, wie die einst hypermoderne Cité des 4000 Milles, vier Wohnblöcke mit jeweils 1000 Wohneinheiten, die teilweise bereits wieder dem Verfall preisgegeben sind. Gesichtslose Straßen, dazwischen kleine, alte Häuser – die meisten heruntergekommen. Verfall als Dauerzustand. Am Tag sind wenig Menschen auf den Straßen, nur auf abgewrackten Bürosesseln lungern junge Männer herum: “Cauffeurs”, Späher, die mit langgezogenen Rufen Alarm schlagen, sobald die Polizei auftaucht.
Dazwischen liegen Brachflächen, legale und illegale Müllhalden, Schrottplätze und verwahrloste Friedhöfe. Orte zum Verweilen gibt es kaum: ein paar Bänke, heruntergekommene Spielplätze, vermüllte Grünflächen. Kaum Läden, keine Bäckereien, Restaurants, keine einladenden Cafés. Bis auf eines: das „Café le Montjoie“. Ein kleiner, unscheinbarer Raum, spärlich möbliert, in dem der Algerier Rachid ein freundliches Regiment führt. Ein Treffpunkt für Außenseiter, Einsame, Versehrte, ein Ort der Wärme und des Gelten-Lassens, in den die Erzählerin und ihr Freund Thierry immer wieder zurückkehren und langsam als dazugehörig akzeptiert werden.
Der Text umfasst achtzehn Streifzüge. Die Erzählerin schildert, was sie sieht und erlebt, sie recherchiert Namen und Ereignisse und erzählt Geschichten wie die des algerischen Marathonläufers Boughéra Es Ouafi, der 1928 bei den Olympischen Spielen für Frankreich eine Goldmedaille gewann und für einen kurzen Moment als Franzose wahrgenommen wurde. Sie schildert die Gespräche der Menschen im Café, deren Positionen sie zumeist nicht teilt, aber nicht sofort verurteilen will.
Auf ihren Gängen spielen Thierry und sie ein Spiel: Sie ist die Pariserin aus der Innenstadt, weiß und französisch natürlich, er der algerische Bewohner der Banlieue, immer unterdrückt, verachtet und misstrauisch. Sie hauen sich die jeweiligen Klischees um die Ohren, lachen und scherzen, aber der Grat, auf dem sie sich bewegen, ist schmal: Wann bei Thierry der Scherz aufhört und wirkliche Verletzungen oder auch platte Vorurteile hervortreten, ist nie so genau auszumachen. Als Leser bekommt man eine Ahnung davon, wie tief die Gräben zwischen den unterschiedlichen Lebenswelten sind. Zu Beginn des Buches heißt es: „Ich hatte ferne Kontinente bereist, hatte Städte erforscht und Inseln erwandert, aber für das Fremde und Andere in nächster Nähe war ich blind geblieben.“ Es ist zweifelhaft, ob Thierry und die Erzählerin ihr Ziel, den Menschen dort näher zu kommen, erreicht haben. Am Ende heißt es: „Denn ich weiß nun, dass unsere Streifzüge hier nicht enden, sondern dass wir erst am Anfang stehen unserer Reise und ich davon erzählen werde.“
Ruth Roebke, Frankfurt