Zum Buch:
Das Dorf liegt tief unten in der Schlucht und fängt dort an, wo es aufhört. Ein Fliegendreck auf der Weltkarte, sagt die Großmutter, die so eine in der Küche aufgehängt hat. Viele Nadeln stecken darin, eine für jeden Ort, an dem sie zusammen mit dem Großvater gewesen ist, dem Großvater, für dessen Seidenfüße sie früher Socken gestrickt hat, die jetzt die Enkelin trägt. Schön warm sind die Socken, auch wenn die Ferse eine Beule an der Wade des Mädchens bildet, des Mädchens, das nur kurz nach einem Frosch Ausschau hielt, als der kleine Bruder zum Fluss lief . Wie hätte sie ahnen sollen, dass der Fluss den kleinen Bruder auf seinem wilden Wasser davontragen würde bis ins Schwarze Meer? Vater und Mutter sind weggezogen nach dem Tod des kleinen Bruders.
Oft hat das Mädchen mit dem Großvater unter dem Fliederbaum gesessen. Dann hat er ihr von den Tieren erzählt, die ihr Kleid der Umgebung so anpassen, dass man sie nicht sieht. Ein stattlicher Jäger war der Großvater. Vor einem Jahr hat er sich aus dem Staub gemacht in das abgelegenste, schönste Tal von allen, ins Paradies, nach Tamangur.
Die Dramen geschahen in der Vergangenheit. Enkelin und Großmutter lernen, miteinander weiterzuleben. Manchmal gibt es Tage, an denen die Erinnerungen an das Leben mit dem Großvater der Großmutter im Weg liegen wie der Haushund Chan – unberechenbar, so dass sie überall über sie stolpert. Manchmal gibt es Nächte, in denen die Enkelin von dem Fluss träumt, der den Bruder mit sich forttrug.
Nicht so traurig, wie man denken könnte, ist dieser erste Roman von Leta Semadeni, die ihren Hauptpersonen bis zum Ende keine Namen gibt. Die rätoromanische Lyrikerin hat einen Sprachduktus gewählt, der beruhigt und vor allem: tröstet. Ihre intensiven Bilder, die noch lange nachwirken, machen aus dem Buch eine wunderschöne Lektüre.
Susanne Rikl, München