Belletristik

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Buchempfehlung Belletristik

Autor
Schweblin, Samanta

Hundert Augen

Untertitel
Roman. Aus dem argentinischen Spanisch von Marianne Gareis
Beschreibung

Erst Tamagotchi, dann Fidget Spinner, jetzt Kentuki: Die Welt hat ein neues Spielzeug. Ein Plüschtier, ausgestattet mit einer Kamera und einem Mikrofon, steuerbar von jemand Unbekanntem. Per Code verbindet das Roboter-Plüschtier Menschen auf der ganzen Welt. Mühelos verwebt der Roman die einzelnen Erzählungen über die unterschiedlichsten NutzerInnen des Kentukis zu einer Studie über das digitale und reale Miteinander. Ein schnelles und unterhaltsames Buch, das in seiner Leichtigkeit aber auch Abgründe aufscheinen lässt.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Suhrkamp Verlag, 2020
Format
Gebunden
Seiten
252 Seiten
ISBN/EAN
978-3-518-42966-2
Preis
22,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Samanta Schweblin wurde 1978 in Buenos Aires geboren. Für ihren Erzählungsband Die Wahrheit über die Zukunft erhielt sie 2008 den Premio Casa de las Américas sowie den Juan-Rulfo-Preis, für den Band Sieben leere Häuser erhielt sie den Premio de narrativa breve Ribera del Duero de España. Ihre Bücher sind in 25 Sprachen übersetzt. Samanta Schweblin lebt und arbeitet in Berlin.

Zum Buch:

Würdest du lieber beobachten? Oder beobachtet werden? Kentuki, das ist eine Mischung aus Social media-Gadget und Haustier. Ausgestattet mit einer Kamera und einem Tonabnehmer folgt es seinen BesitzerInnen durch die Wohnung, erwartet sie, wenn sie nach Hause kommen, reagiert mit quietschenden Geräuschen und Bewegung. Oft ist nicht klar welche Emotionen damit zum Ausdruck gebracht werden sollen; nicht unähnlich einer Katze oder einem Hund. Sprechen oder gestikulieren können sie nicht. Doch hinter dem Gerät steckt nichtsdestoweniger ein Mensch: Nimmt man ein Kentuki in Betrieb – beim Kauf kann man zwischen endlosen Variationen schlecht zusammengenähter Tierfiguren wählen –, verbindet es sich per Code zufällig mit einem von tausenden Nutzern auf der ganzen Welt. Er oder sie steuert das Roboter-Plüschtier von einem Tablet aus; kann durch es hören und sehen. Wie jeder erfolgreiche Medientrend ist auch das Prinzip des Kentukis, hat man es einmal verstanden, ein Selbstläufer. Anfängliche Bedenken legen sich, je vertrauter der Umgang mit dem eigenen Kentuki wird, um mitunter plötzlich wieder als Bedrohung präsent zu werden.

Hundert Augen ist jedoch keine Überwachungs-Dystopie. Die Personen, die von ihren Bildschirmen aus Kentukis steuern, erfahren oft nur mit Glück, wo auf der Welt die sich befinden. Der Roman ist im wahrsten Sinne transnational, er wechselt mit jedem Nutzer mühelos den Kontinent; das Internet ist sozusagen ins Real Life zurückgekehrt. Schweblins Fokus liegt dabei spürbar nicht auf der technischen Innovation per se, sondern auf der menschlichen Interaktion, die durch sie hervorgerufen wird.

So funktioniert der Kentuki zwar als Anstoß der Erzählung, was wir aber über die Menschen erfahren, bleibt vertraut: Ein Schuljunge findet sich als Kentuki zwar endlich in der erträumten Form eines Drachens wieder und kann damit seine Mitschüler beeindrucken, steckt aber andererseits als Ausstellungsobjekt in einem Schaufenster fest. Dann bricht er dort aus und macht sich auf den Weg, um zum ersten Mal in seinem Leben Schnee zu berühren. Eine fast wahnsinnige Hoffnung, berührt doch nicht er selbst den Schnee, sondern das Plüschtier, das er steuert. Aber die Fiktion des Virtuellen ist auch hier fragil. In mehr als einer Situation wird die Grenze zwischen Nutzer und Kentuki porös, und die Anonymität, die diese bemerkenswerte soziale Konstellation ermöglicht, zeigt Risse. Häufig offenbart sich erst dann – wenn Aktion und Reaktion im menschlichen Miteinander nicht mehr voneinander getrennt sind –, welche ethischen und persönlichen Grenzen überschritten worden sind.

Samantha Schweblin phantasiert mit Hundert Augen zum einen über eine Erfindung, die durchaus auch Teil unserer Gegenwart sein könnte, und portraitiert damit zum anderen auf sehr intelligente Weise den Umgang der Menschen miteinander, im Virtuellen wie im Physischen.

Theresa Mayer, autorenbuchhanlung marx & co