Zum Buch:
Wer sich fragt was schlimmer sein kann als eine Kindheit in beständiger Bedrohung durch einen gewalttätigen Vater, erfährt es in Claudia Schumachers Debütroman Liebe ist gewaltig.
Eigentlich sind sie eine Vorzeigefamilie, das Anwaltsehepaar Ehre und ihre vier Kinder im beschaulichen Ederfingen. Dass indes hinter geschlossenen Türen jeder versucht, seine Haut zu retten, jedes Kind seine eigene Überlebensstrategie entwickelt, um möglichst lange kein Ziel der Erniedrigung und Prügelei des Vaters zu werden, ahnt niemand. Die unterwürfige Mutter, die leichtbekleidet versucht, das Familienoberhaupt bei Laune zu halten, ist manchmal Mittäterin, gelegentlich aber auch ein bei ihren Kindern um Verständnis heischendes Opfer. Auf ihren Schutz kann sich jedenfalls keines der Kinder verlassen. Max, der Erstgeborene, ist aus Sicht des Vaters sowieso verachtenswert feinsinnig. Alex, die Zweitälteste, verschwindet in einer selbstgewählten Durchschnittlichkeit und verlässt das Elternhaus, sobald es ihr möglich ist. Einzig Juli und Bruno verbünden sich und versuchen auf ähnliche Weise, den leistungsbetonten Vater zufrieden zu stellen oder ihm zu entfliehen, wenn es nötig wird.
Der Roman setzt dort ein, wo Juli als „seelisch zerschmetterte Siebzehnjährige“, wie sie sich selbst bezeichnet, in einer Kurklinik landet, um dort TherapeutInnen und MitpatientInnen mit ihren rüden Provokationen vor den Kopf zu stoßen. Warum sie dort hingekommen ist und wie ihr Leben weitergeht, als sie nach wenigen Tagen des Sanatoriums verwiesen wird, erzählt die Autorin schmerzhaft detailliert. Schnell wird klar, dass hier ein junger Mensch eingekeilt ist zwischen dem Wunsch nach der Anerkennung und Liebe ihres fordernden Vaters und der gleichzeitigen Angst vor dessen unberechenbaren Gewaltausbrüchen. Gravierender als Leistungsdruck und Prügel – auch wenn das Leid für die Kinder kaum steigerbar scheint – ist jedoch die nachträgliche Relativierung oder gar Leugnung der väterlichen Aggression. Die langsam verblassenden Blutflecken auf dem Teppich stammen sicher nicht von einem Angriff auf Max! Es ist Julis blühende Phantasie, die sich das als Erklärung eines eigenen Missgeschicks zurechtgelegt hat. Oder doch nicht? Und wenn dem Vater mal „die Hand ausrutschte“, findet die Mutter ganz sicher viele gute Gründe, warum Juli oder ihre Brüder selbst Schuld daran waren.
Diese Verdrehung des Erlebten raubt Juli jegliche Sicherheit, auch die, sich wenigstens auf ihr eigenes Gefühl von Recht und Unrecht verlassen zu können. Eine Kinderseele zerbricht an so etwas oder legt sich einen extrem dicken Panzer zu, in dem sie als Erwachsene die meiste Zeit eingesperrt bleiben wird. Nur Sanyu, die schöne, selbstbewusste Sanyu wird irgendwann und nur für kurze Zeit einen Blick hinter die Kulissen werden dürfen und eine haltlose, aber vergängliche Liebe in Juli entzünden.
Wie tief und unauslöschlich die Prägungen unserer jeweiligen Familiengeschichten sind, davon erzählt Claudia Schumacher überzeugend und drastisch. Dass Wahrnehmung und Erinnerung dabei im Rückblick keine verlässlichen Größen sind, jedes Familienmitglied seine eigene Perspektive hat, egal ob bewusst manipulativ oder mild geschönt, um Erinnertes besser aushalten zu können, wird in der Literatur immer öfter verhandelt. Die 1986 in Tübingen geborene Autorin des hier empfohlenen Romans demontiert eine scheinbar perfekte Familienfassade, leuchtet sprachlich gekonnt Abgründe aus und zerschlägt kurze Zweckallianzen zwischen den Protagonisten. Am Ende bleibt jeder mit sich und seiner Version der Erinnerung an Vergangenes allein. Ein traurig-beklemmendes Romandebüt.
Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt