Zum Buch:
Der Maghreb, abgeleitet vom arabischen al-maġrib‚ der Westen, ist ein riesiges Gebiet im Norden von Afrika. Heute versteht man darunter vor allem die Staaten Tunesien, Algerien und Marokko, die aufgrund ihrer Geographie und Geschichte viele Gemeinsamkeiten haben und deren ursprüngliche Bewohner die Berber sind. Wollte man eine Geschichte dieser Regionen schreiben, käme wohl ein 800-seitiges, Zahlen, Namen und Fakten aneinanderreihendes, mehr oder weniger interessantes Geschichtsbuch heraus.
Boualem Sansal hat einen anderen Weg gewählt. Sein Buch, das im Original „Petit éloge de la mémoire“, „Kleines Lob der Erinnerung“ heißt, hat den Untertitel „4001 Jahre der Nostalgie“, und der Titel ist Programm. Nostalgie ist für Sansal die „Sehnsucht nach einer fernen Heimat“, und fern kann die Heimat sein, selbst wenn man dort lebt. Erinnerung ist, wie man weiß, subjektiv.
Es spricht ein Erzähler, ein Mann aus dem Volk der Berber, der in wandelnden Inkarnationen den Leser durch 4000 Jahre Geschichte führt. Wobei „Berber“ keine klar umrissene historische Größe ist, dazu gab es zu viele Wanderungen, zu viele unterschiedliche Stämme und zu oft das – meist unfreiwillige – Verschmelzen mit erobernden Völkern. So wie überhaupt diese Geschichte mehr von Niederlagen als von Siegen erzählt, immer aber von einem unbändigen Überlebenswillen, einer großen Anpassungsfähigkeit und störrischem Eigensinn.
Es beginnt in Ägypten, wohin die Berber einwanderten, die aus den Tiefen Afrikas kamen. Nach dem Untergang des alten Reiches zogen sie nach Westen, nach Numidien, das in etwa die heutigen Grenzen des Maghreb umfasste und in dem sich Jahrtausende lang wechselnde Mächte tummelten. Weiter ging es mit Rom, Karthago, den punischen Kriegen. Dann kamen die Byzantiner, die Osmanen, die Türken und zum Schluss die französischen Kolonisten. Wie die Herrscher wechselten die Religionen: von den Göttern Ägyptens und des Altertums zum Christentum und zum Islam.
Der Erzähler eilt durch die Jahrhunderte, greift heraus, überspringt, ist bald hier, bald da. Mal ernsthaft, mal ironisch, mal voller Trauer, zornig, dann voller Sarkasmus kann man seine Geschichte immer auch als Kommentar zur Gegenwart lesen. Der Text ist ungeheuer dicht und dabei von großer Sinnlichkeit und sprachlicher Vielfalt.
Ich habe mich am Ende gefragt, ob ich von diesem rasanten Ritt durch Zeit und Raum viel behalten habe. Fakten vielleicht nicht. Aber verstanden habe ich etwas von den heutigen Zuständen und Befindlichkeiten in der nordafrikanischen Region – noch vor der „Arabellion“ – und mich dazu noch prächtig unterhalten.
Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt