Belletristik

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Buchempfehlung Belletristik

Autor
Michaels, Anne

Wintergewölbe

Untertitel
Roman. Aus dem Englischen von Gerhard Falkner und Nora Matocza
Beschreibung

Der neue Roman von Anne Michaels, zehn Jahre nach ihrem großartigen Erstling Fluchtstücke erschienen, erzählt vom Verlust. Verlust von Menschen, Verlust von Landschaft und Heimat. Durch erzwungene und gewollte Trennungen, durch Tod, Krieg, Zwangsumsiedlung. Aber vor dem Verlust hat es etwas Gelungenes gegeben und auch davon spricht dieses Buch. In einer traumwandlerisch sicheren, präzisen Sprache, in der jeder Satz leuchtet.

Verlag
Berlin Verlag, 2009
Format
Gebunden
Seiten
350 Seiten
ISBN/EAN
978-3-8270-0534-2
Preis
22,00 EUR

Zum Buch:

Avery und Jean lernen sich in einem trockenen Flussbett kennen. Sie sammelt Pflanzen, die nur an diesem Ort wachsen, um sie vor dem Untergang zu bewahren: eine Flussbegradigung wird die Landschaft zerstören. Er ist Ingenieur und arbeitet an dem Umleitungsprojekt mit. Es ist Liebe auf den ersten Blick und neben der Liebe vereint beide die Trauer über den Verlust all dessen, was der angebliche Fortschritt an dieser Landschaft bewirken wird.  

Averys nächste Arbeit führt ihn an den Nil, wo bei Abu Simbel der Nasserstausee gebaut wird. Jean begleitet ihn. Die Rettung der großen Tempelanlage, eine gigantische Umsiedlung, sei eine Art Widergutmachung für die anderen Zerstörungen, glaubt Avery. Die Umsiedlung zehntausender Nubier, die aus ihren angestammten Siedlungen in öde Plattenbauten, viele tausend Kilometer entfernt, gebracht werden, verhindert das allerdings nicht. Es ist ein falscher Trost. „Ich frage mich, was es bedeutet, etwas zu retten…, wenn Rettung überhaupt durch uns erst notwendig geworden ist.“  Die Liebe, die endlosen Gespräche über sich, ihre Kindheit, ihre Erfahrungen, all das kann die zunehmende Trauer und den Verlust dem Avery und Jean zusehen und an dem sie mitwirken, nicht aufwiegen. Als sie selbst ein schwerer Verlust trifft, gerät ihr ganzes Leben ins Wanken. Zurück in Kanada trennen sie sich. Jean lernt Lucjan kennen, einen Juden, der im Warschauer Ghetto aufgewachsen ist und dessen Leben von Verfolgung und Tod in den Kriegsjahren geprägt ist. Seine Schilderungen kreisen um den Wiederaufbau des historischen Danzig durch die Polen nach dem Krieg – in den Augen des Juden ist auch dies ein falscher Trost. Das ganze Buch durchzieht ein feiner melancholischer Ton. Es gibt unglublich schöne Schilderungen von Landschaften, Siedlungen und menschlichen Beziehungen. Schön gerade in ihrer Fragilität, oft im Angesicht des Untergangs. Zum Glück ist das nicht alles. In den Menschen, die Michaels schildert, ist auch Widerstand – auf eine sehr persönliche Art. Lucjan stellt aus Abfall in nächtlichen Aktionen eine Art modernes Äquivalent zur Höhlenmalerei her. Jean pflanzt heimlich in den Asphaltritzen und öffentlichen Anlagen der Großstadt in Asphaltritzen und öffentlichen Anlagen heimlich verdrängte Pflanzenarten wieder an und Avery beginnt ein Architekturstudium, will Räume schaffen, in denen Menschen heimisch werden könnten.  Anne Michaels ist Lyrikerin, das merkt man diesem Buch an. Jeder Satz ist sorgfältig bedacht und bearbeitet. Manchmal kann das auch zuviel werden, Sehnsucht nach Banalem, Unbedachtem stellt sich ein. Aber es überwiegt die Freude an der Achtung, die aus ihrem Text spricht. Achtung vor Menschen und Dingen und dem Wort, dem Sinn, den wir ihnen geben und ohne den das Leben sinnlos, ein Verlust wäre.  

Ruth Roebke, Autorenbuchhandlung Marx & Co., Frankfurt