Zum Buch:
Hauptsach gut gess. Diese Lebenseinstellung der Saarländer mag gewiss an der grenzübergreifenden Nähe zur französischen Region Lothringen liegen, die für den im saarländischen Nunkirchen geborenen und nun dort wieder wohnenden Heipe Weiss ein „Einkaufsparadies“ zu sein scheint. Jedenfalls kann man in seinem neuen Buch literarische Spuren von Einkaufstouren dorthin finden.
Aber was heißt Hauptsach gut gess für einen, der – wie in der beeindruckenden Kurzbiografie am Ende des Buches nachzulesen ist – mit einer bitteren Krankheit leben muss: „Seit 2012 dreimal wöchentlich viereinhalbstündige Hämodialyse wegen Nierenversagens nach über zehn Jahren insulinpflichtigem Diabetes mellitus“.
Gut gess? Es gibt viele Komplikationen, die dazu führen, dass Dialysepatienten zu einer recht seltsamen Diät gezwungen sind. „Fast alles, was gesund ist (vitaminreiche Kost, Nüsse, Körner usw.) ist für sie tendenziell und akzidentiell tödlich gefährlich. Und um die Effekte des einen oder anderen Nahrungsergänzungsmittels auszugleichen, braucht es entsprechend gegenteilig wirkende Medikamente. … Mein Arzneienkatalog umfasst inzwischen etwa 17 einzelne Pharmaka (182/83)
Man kann Heipe Weiss nur bewundern, mit welchen Kniffen, Unwägbarkeiten, schmerzhaften Niederlagen und vor allem seinem (Galgen-) Humor er immer wieder eine Balance schafft und auf den Beinen bleibt bzw. wieder auf die Beine kommt. Und all dies mit einem großen Reservoir aus jahre-, jahrzehntelanger Erfahrung – auch dann, als mit Corona eine weitere schwere Belastung dazu und obendrauf kam. Anlass für ihn, sich nicht im alltäglichen Überlebenskampf aufzureiben, sondern aufzuschreiben, wie er sich der Auseinandersetzung mit der täglichen, potentiell tödlichen Gefahr einer Covid 19-Ansteckung stellt: Ave Covid, morituri te salutant. Aufzuschreiben, wie sich die Pandemie, die Gegenmaßnahmen und ihre Auswirkungen in unser gesellschaftliches Leben bohren. Aufzuschreiben, was das alles für ihn bedeutet, auch ganz praktisch im Alltag – und im Lichte seiner Lektüreerfahrung als wilder Leser. Heipe Weiss hat wie kaum ein Zeitgenosse eine Bibliothek im Kopf, abrufbar bzw. immer gut für den kurzen Weg aus dem Kopf aufs Papier – mit dem Grundimpuls eines Bockenheimer Realsurrealisten.
So schreibt er vom Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 bis zum Herbst 2021 fast Woche für Woche 73 „Morituris“, Glossen, die die Welterfahrung des bald 75-Jährigen und die Alltagserlebnisse derart verdichten, dass sie mit einem Mal nicht weg-gelesen sind. Sie halten fest, was schon wieder ins Verdrängen rutscht, dass Deutschland kein Weltmeister ist, weder bei der Pflege, der Versorgung der Gefährdeten, der Solidarität, noch bei der Beschaffung von Masken, Impfstoff, aber doch beim Hamstern von Klopapier, ach, „Ave Covid“!
Heipe Weiss Texte schaffen weit offene Imaginationsräume, wie zeitgenössische Diagnosen es selten tun (“gruselig”?!? – so ein Lese-Freund). Sie sind Zumutungen.
Durch sein “Imaginieren ohne Geländer” (frei nach Hannah Arendt) kommt es immer wieder zu einem Funkenflug von geisterhellenden, herzerwärmenden gedanklichen Sternschnuppen, und seine Geistesblitze illuminieren dunkel gebliebene Räume, öffnen gut verschlossene Fenster in verdrängte Unterdrückungs- und Unheilswahrnehmungen, warnen vor den oberflächenglatten Fallen und führen gewitzt ins Freie.
Dieses Buch stärkt die Immunkraft des Denkens und ist Medizin gegen das Vergessen.
Karl Piberhofer, Berlin