Zum Buch:
Sehen wir einmal über einige eklatante Schwächen in Slovos Roman hinweg – darüber, daß die Protagonisten derart durchsichtig gruppiert sind, daß selbst ein 15-jähriger Schüler sofort erkennt, für welche gesellschaftliche Klasse sie stehen und sprechen; darüber, daß sämtliche Protagonisten immer wieder ins Leere, hinter Insekten und Autos herstarren, wenn ihnen und der Autorin die Worte ausgehen; darüber, daß Slovo einer ihrer Helden, der Ex-Polizist und Folterer Pieter Muller derart entgleitet, daß es am Ende zu einem ebenso überraschenden wie wenig glaubwürdigen Ende kommt. Sehen wir auch darüber hinweg, daß wir gegen Schluß des Romans sogar Zeuge einer halbseitigen, geradezu lächerlich mißlungenen Erotikszene werden. Das alles schließt nicht aus, daß Gillian Slovo mit “Roter Staub” ein wichtiger, bewegender und strittiger Roman gelungen ist. Wichtig – weil dieser Roman von einem einmaligen Experiment handelt, von den Wahrheitskommissionen, einer Idee des Bischof Tutu, mit deren Hilfe sich die Weißen ihren unfreiwilligen Abgang aus der südafrikanischen Regierung versüßen ließen. Wer vor der Kommission seine Verbrechen in Zeiten der Apartheit gesteht, wer also die Wahrheit sagt, der wird nicht weiter belangt, der erspart sich den Gang ins Gefängnis und wird amnestiert. Es treffen sich in “Roter Staub” der im Gefängnis sitzende ehemalige weiße Polizist und Folterer Dirk Hendricks und eins seiner Opfer, Alex Mpondo, inzwischen Parlamentsmitglied. Daß es bei diesem Verfahren nicht um die Wahrheit geht, erst recht nicht um Gerechtigkeit, merkt Mpondo’s Anwältin Sarah Barcant, die von ihrem ehemaligen Mentor aus New York in ihre Heimat zurück beordert wurde, sehr schnell. Aber worum geht es dann? Es geht um Versöhnung. Es geht darum, beiden Seiten, den ehemaligen weißen Herrschern und der schwarzen Mehrheit ein Zusammenleben zu ermöglichen. “Roter Staub” ist bewegend, weil es Gillian Slovo gelingt, ein Szenario zu entwerfen, das Schritt für Schritt der Vergangenheit auf die Spur kommt und dabei den Schmerz spüren läßt, den die Erinnerung an manche Ereignisse hervorruft – vor allem bei Alex Mpondo, der nur widerwillig zum Verfahren angetreten ist, der gar kein Interesse daran zeigt, seinen ehemaligen Peiniger weiter hinter Gittern zu sehen, weil er selbst nicht der Held des Befreiungskampfes ist, für den ihn inzwischen alle halten. Ohne sich über den wirklichen Verlauf der Verhöre im Klaren zu sein, hält er sich für einen Verräter, der für den Tod seinen besten Freund verantwortlich ist. Strittig ist “Roter Staub”, weil Gillian Slovo eine durch und durch weiße Sicht der Dinge an den Tag legt – die Sicht des weißen liberalen südafrikanischen Bürgertums, das sich gegen die Apartheid wendet, weil sie sie für unvereinbar mit den Menschenrechten hält. Eines Bürgertums, das die Folterer des Apartheitregimes für Sadisten hält, nicht für Rassisten, die Macht, Reichtum und Privilegien einer Klasse verteidigen. Sarah Bercants alter Mentor kommt sogar zu einem aus der Distanz fast bizarr wirkenden Schluß: “Alex und Dirk Hendricks haben etwas Grundlegendes gemeinsam. Beide sind auf ihre Art Patrioten.” “Diese beiden Männer,” sinniert Sarah Bercant während des Prozesses, “einst dies- und jenseits der Rassenschranke kämpfend, die Südafrika gespalten hatte, waren miteinander verbunden. Sie kannten sich nicht wie Feinde oder Fremde, sondern wie Vertraute. Fast Brüder.” Man mag als aufrechter europäischer Linker über solche Sätze die Nase rümpfen – stellen sie doch ein rassistisches Gewaltregime auf die gleiche Ebene wie den schwarzen Befreiungskampf. Brüder? Eine gewagte These, die dennoch aus der Distanz kaum zu widerlegen ist. Hoffen wir, daß dieser weißen Sicht irgendwann einmal ein Roman eines schwarzen südafrikanischen Autors folgen wird. Albert Wiedenhöfer (Köln)