Zum Buch:
Die französisch-marokkanische Autorin Leïla Slimani wurde 2016 für ihren Roman Dann schlaf auch Du mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Bisher spielten ihre Romane in Paris, sie erzählten Konflikte und Perspektiven der französischen Bourgeoisie.
Ihr neuer Roman ist inspiriert von der eigenen Familiengeschichte, der Geschichte ihrer Großeltern mütterlicherseits. Mathilde ist Französin, Amine ist Marokkaner und hat für die Franzosen im Zweiten Weltkrieg gekämpft. Sie ist Elsässerin und heiratet ihn aus Liebe und Abenteuerlust. Das Paar geht nach Marokko, weil er dort das Land seines Vaters bebauen will. Sie ist die Fremde, die sich der herrschenden Geschlechterordnung nicht unterwerfen will, es am Ende aber immer wieder tut, weil es keine Alternative gibt.
Slimani erzählt die Geschichte aus vielstimmiger Perspektive. Da gibt es die Mutter Amines, eine traditionelle Muslima, die ihre Söhne bedient wie eine Magd. Es gibt Selma, seine jüngste, lebenshungrige Schwester, die tanzen und sich amüsieren will. Es gibt aber auch Omar, Amines Bruder, der zum radikalen Nationalisten wird, sowie Aicha, die kleine Tochter von Mathilde und Amine, die eine katholische französische Schule besucht und von ihren Klassenkameradinnen ausgegrenzt wird, und es gibt den Gynäkologen Dragan, einen ungarischen Juden, der auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in Marokko gelandet ist. Als Arzt hilft er allen und fragt nicht, auf welcher Seite sie stehen. Der Roman führt in die Geschichte Marokkos nach 1945 im Übergang von der Kolonie zum Königreich.
Slimani erzählt die Denkmuster des Kolonialismus sowohl aus der Perspektive der Kolonisatoren als auch der Kolonisierten. Der Roman umspannt das erste Nachkriegsjahrzehnt und endet mit Anschlägen auf Einrichtungen der Protektoratsbehörden und auf Höfe französischer Grundbesitzer. Durch die Perspektive der Fremden, die nicht zu den Kolonisatoren gehört, sich aber auch nicht den Sitten und Ordnungen ihrer Umgebung unterwerfen will, bleibt der Roman nicht in einem Schwarzweißdenken verhaftet. So wird das unterdrückerische, ausbeuterische Zwei-Klassen-System, aber genauso die brutale körperliche Gewalt gegen Frauen in der traditionellen Ordnung deutlich sichtbar.
Ein wichtiger Roman, leicht zu lesen und zugleich fesselnd, der anschaulich und in präzisen, sehr realistischen Bildern erzählt.
Barbara Determann, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt