Zum Buch:
Folgt man den Akten, haben sich 1930 in dem nordisraelischen Dorf drei Männer umgebracht. Einer hatte Schulden und der andere litt an einer unheilbaren Krankheit, nur beim dritten gab es keinen stichhaltigen Grund. Was Wunder, handelte es sich bei ihm doch um keinen Selbstmord. Natürlich wusste das im Dorf jeder, und natürlich wurde darüber nie gesprochen. Aber jetzt, im Gespräch mit der jungen Wissenschaftlerin, entschließt sich Ruta, das Schweigen über ihre Familiengeschichte zu brechen und die ganze Geschichte zu erzählen: die Geschichte ihres Großvaters Seev, dem Tyrannen, der seine Frau in ein frühes Grab und seine Söhne in ferne Länder getrieben hatte, seine Enkel, Ruta und ihren Bruder, aber liebevoll und zärtlich großzog und schließlich auch Rutas Mann, der über dem Tod des gemeinsamen Sohnes fast zerbrochen wäre, so sanft wie entschieden wieder ins Leben zurückführte. Die Geschichte einer Männerwelt, erzählt aus der Perspektive der Frau, die aus dieser Welt von den Männern, die sie liebt, ausgeschlossen wird und der nicht anderes bleibt, als sie aus bitterer und verzweifelter Distanz zu beobachten.
Meir Shalev ist als außergewöhnlich guter Erzähler bekannt, aber seine faszinierenden Bilder, seine lustvoll überbordende Sprache wirken in diesem Roman von einem Furor getrieben, der selbst in seinem umfangreichen Werk keine Entsprechung hat und einen bei der Lektüre fast unerbittlich mit sich reißt. Von den ersten, verwirrenden und rätselhaften Kapiteln an entfaltet er ein Kaleidoskop aus Geschichten und Situationen, mal ungeheuer zärtlich und liebevoll, mal erschreckend brutal, dem man zunächst nur atemlos folgen kann. Erst allmählich erkennt man den Faden, den Ruta in der Hand hält und der aus dem Labyrinth der verschiedenen Ereignisse, Zeiten und Personen herausführt. Das ist meisterhaft gemacht und lässt einem am Schluss, wenn all die furchtbaren Geheimnisse aufgedeckt und alle losen Enden verknüpft sind, bei allem Schrecken fast ehrfürchtig vor soviel Kunstfertigkeit zurück. Und dann setzt das Nachdenken ein: über die Macht von Sprache und Bildern, über Männerbünde und Männerfreundschaft, über die Rolle der Frauen in einer Siedlergesellschaft, über Krieg und über die Möglichkeiten, patriarchale und militärische Strukturen aufzubrechen. Mehr kann man von einem guten Roman nicht verlangen.
Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main