Belletristik

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Buchempfehlung Belletristik

Autor
Setz, Clemens J.

Die Bienen und das Unsichtbare

Untertitel
Beschreibung

Was für eine grandiose Idee: Ein Buch über Plansprachen! In Die Bienen und das Unsichtbare erzählt Clemens J. Setz über seine sechs Jahre andauernde intensive Beschäftigung mit Volapük, Esperanto, Blissymbolics, Talossa, Klingonisch und Quenya. Dabei lässt er die Leserin über seine Schulter schauen. Hängen bleibt dabei aber viel mehr als kuriose Geschichten, abenteuerliche Biografien und rare Einblicke in ausgeklügelte Grammatiken. Nicht nur eine Freude für Sprachfreund*innen also!
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Suhrkamp Verlag, 2020
Format
Gebunden
Seiten
416 Seiten
ISBN/EAN
978-3-518-42965-5
Preis
24,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren, wo er Mathematik sowie Germanistik studierte und heute als Übersetzer und freier Schriftsteller lebt. 2011 wurde er für seinen Erzählband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Sein Roman Indigo stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2012 und wurde mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2013 ausgezeichnet. 2014 erschien sein erster Gedichtband Die Vogelstraußtrompete. Für seinen Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre erhielt Setz den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2015. Mit Vereinte Nationen war Setz 2017 und mit Die Abweichungen 2019 zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen. Sein neues Buch Die Bienen und das Unsichtbare erscheint im Oktober 2020.

Zum Buch:

Was für eine grandiose Idee: Ein Buch über Plansprachen! In Die Bienen und das Unsichtbare erzählt Clemens J. Setz über seine sechs Jahre andauernde intensive Beschäftigung mit Volapük, Esperanto, Blissymbolics, Talossa, Klingonisch und Quenya. Dabei lässt er die Leserin über seine Schulter schauen. Hängen bleibt dabei aber viel mehr als kuriose Geschichten, abenteuerliche Biografien und rare Einblicke in ausgeklügelte Grammatiken. Nicht nur eine Freude für Sprachfreund*innen also!

Setz beschreibt in diesem Buch seine intensive Auseinandersetzung mit Plansprachen. Zugrunde liegt seine zunächst sehr persönliche Frage, warum es ihn während einer physischen und psychischen Krise im Jahr 2015 ausgerechnet zur Beschäftigung mit Kunstsprachen zieht. Auf seinem Weg zur Beantwortung seiner Frage reist er nach Malmö, um einen jungen Mann mit Behinderung zu besuchen, der ein native speaker in Blissymbolics ist und der in dieser Sprache beeindruckende Gedichte schreibt. Setz lernt selbst Plansprachen, beschäftigt sich mit den Biografien ihrer Erfinder*innen, und fragt immer: Was sollte das alles? Was treibt einen Menschen dazu, soviel Aufwand zu betreiben, um eine neue Sprache zu erfinden, und was treibt andererseits Menschen dazu, mit viel Aufwand diese Sprachen zu lernen, obwohl unklar ist, ob es je so viele Sprecher*innen geben wird, dass eine Kommunikation möglich sein würde? Sind Kunstsprachen nicht eigentlich nichts anderes als seltsame Formen freiwilliger Sprachvereinsamung?

Setz setzt sich eingehend mit der Frage auseinander, wie schrecklich es sein muss, sich nicht verständigen zu können. Er berichtet über Wachkomapatient*innen, die jahrelang bei Bewusstsein sind, aber sich nicht äußern können, bis eine Maschine das möglich macht. Er berichtet von Kindern mit schweren Behinderungen, denen die Verstandeskraft abgesprochen wird, bis sie ihre Ausdrucksmöglichkeiten in Blissymbolics entdecken und plötzlich nicht nur beginnen, ihre Bedürfnisse zu äußern, sondern auch kreativ mit Sprache umzugehen. Diese Geschichten sind herzzerreißend. Warm und ehrlich schreibt Setz seine eigenen Gefühle in seine Berichte hinein, wenn er über Ungerechtigkeiten flucht oder Tränen vergießt.

Nun ist dieses Buch aber nicht im Geringsten nur traurig: im Gegenteil. An vielen Stellen kann man lautes Lachen nicht vermeiden. Herrlich sind seine Übersetzungsexperimente mit Übersetzungsprogrammen, sein Sinn für zufällige Nonsens-Dichtung – z.B. als die Nobelpreisrede Peter Handkes auf seinem Handy automatisch untertitelt wird, aber nicht mit der englischen Übersetzung, sondern mit der Übertragung der deutschen Worte in ähnlich klingende englische. Das Ergebnis bringt Setz vollkommen aus der Fassung, genauso wie die Leserin. Fasziniert folgt man dem Erzählerautor durch weitere kuriose Geschichten und Spekulationen, etwa zur Frage, was der Mann sagt, der bei der Beerdigung Nelson Mandelas angeblich die Reden in Gebärdensprache übersetzt, tatsächlich aber nur seine Hände bewegt.

Überzeugend sind die Überlegungen, die Setz auf der Grundlage von Biografien von Kunstsprachenentwickler*innen und seiner eigenen physisch-psychischen Krisensituation anstellt, um die Frage zu beantworten: Was treibt einen Menschen in der Krise dazu, sich mit Plansprachen zu beschäftigen? Im Laufe seiner Recherchen und Übungen kommt er den Erfinder*innen der Plansprachen auf die Schliche und sieht hinter ihren – sehr unterschiedlichen – Motivationen den Wunsch nach reiner Bedeutung, nach Unmittelbarkeit, nach einer absoluten Sprache, in die sich die komplexen Erfahrungen des Lebens übersetzen lassen. Genau diese sehnsüchtige Ahnung – mit den richtigen Wörtern könnte sich alles zum Guten wenden – treibt auch den Erzählerautor in seiner Krise um. Schnell wird ihm aber klar, dass es gerade das Uneindeutige ist, das ihn fasziniert und zu kreativen Überlegungen inspiriert.

Der Erzähler meint es ernst: Er lernt tatsächlich die Grundlagen der meisten Plansprachen, über die er schreibt, und er lässt die Leserin dabei über seine Schulter schauen. Das ist ein wunderbares Verfahren. Besser könnte man die Struktur von Sprachen nicht vermitteln, als den Prozess des Erlernens zu beschreiben, über eigene Herleitungen und Eselsbrücken zu schreiben, in Tagebucheinträgen eigene – oft sehr originelle – Suchbewegungen und Wälzereien in Lexika festzuhalten. Genauso geht er auch bei seinen Übersetzungen vor: Die ausführlich zitierten Gedichte in Plansprachen, die ohne Scheu vor Platzverbrauch durch Blöcke kryptischer Buchstabenkombinationen im Buch wiedergegeben werden, übersetzt Setz zum Teil selbst, wobei er nachzeichnet, wie er vorgeht, und nicht selten auch kreative Missverständnisse mit einbezieht, über die er sich dann köstlich amüsiert. (Ein Tipp: Auf Logbuch-Suhrkamp.de findet man drei Gedichte in Original und Übersetzung, gelesen von Clemens J. Setz). Gewiss, gelegentlich fällt ein gewisses Kokettieren des Autorerzählers mit seinem eigensinnigen Nerdtum auf, und sicher gäbe es Einwände gegen sein eklektisches Kramen im Vintage Store der Plansprachen, aber da ihm jeder Zynismus fehlt und die warme Menschlichkeit und sein ungebremster Enthusiasmus aus jeder Zeile hinüberschwappt, nimmt man ihm das nicht übel, im Gegenteil: dieses Buch will zugleich verschlungen und fasziniert studiert werden.

Alena Heinritz, Innsbruck