Zum Buch:
„Das kannst du dir nicht ausdenken, sowas.“ Das ist einer der Leitsätze von Peter Bender, dessen Leben Clemens J. Setz in seinem neuen Roman Monde vor der Landung erzählt. Für Bender liegt die Beschaffenheit der Welt ebenso offen wie eigenwillig zu Tage: um die Sonne als Mittelpunkt krümmt sich die Erde als Hohlwelt, auf deren Innenkruste wir Menschen leben. Nicht ins unendliche All geht unser Blick, wenn wir in den Himmel schauen, sondern er zielt an der Sonne vorbei wieder auf die Erde, ungefähr nach Australien. Es genüge, den eigenen Schatten um die Mittagszeit zu beobachten und dem Impuls der Vermenschlichung, wie ihn jedes Kind noch deutlich spüre, nachzugeben, um die Wahrheit zu erkennen.
Clemens Setz legt die poetische Form seines Romans an diese Haltung Benders an, die das physikalisch-theoretische Denken ob seiner angeblichen Trostlosigkeit ablehnt. Ganz im Gegenteil zu seinem Vorgängerbuch Die Bienen und das Unsichtbare, ein literarisches Sachbuch über Plansprachen, steht hier die Vorstellung der Hohlwelt nicht als kohärentes und in sich abgeschlossenes System im Zentrum der Darstellung, sondern erscheint in erster Linie als Brechung von Benders Lebensrealität und umgekehrt. Jeder Vortrag Benders – von denen es, seiner Persönlichkeit entsprechend, zahlreiche gibt und die sich wechselnd an seine „Gemeinde“, seine Frau Charlotte, seine Geliebte Else oder als innerer Monolog an ein phantasiertes Publikum richten – verrät mindestens eben so viel, meist mehr, über die Situation Benders als über dessen kosmologisches Weltbild.
Benders Lebens wird in zeitlich springenden Episoden erzählt, deren Herzstück der Lebensabschnitt in Worms mit seiner Frau Charlotte ab dem Ende des ersten Weltkriegs ist. Anfang der vierziger Jahre wird die Familie aufgrund des politischen Drucks und der Armut die Stadt verlassen und nach Frankfurt weiterziehen müssen. Charlotte, eine aus Polen stammende Jüdin, die Bender während des ersten Weltkriegs im Lazarett kennengelernt hat, kümmert sich nicht nur um die Verwaltung der Hohlerdgemeinde, sondern versorgt die kleine wachsende Familie mit Geld, zunächst mit ihrer Mitgift, dann als erfolgreiche Fremdsprachenlehrerin und zuletzt, in Zeiten der Inflation, als Hehlerin. Als ebenso tatkräftige wie kluge Frau steht sie in Kontrast zu ihrem Mann. Der Roman erzählt, wie ihre Tatkraft sich immer wieder mit patriarchalen Einschränkungen und stets stärker werdenden antisemitischen Angriffen zu arrangieren versucht, während Bender die wachsende Bedrohung für sich selbst, aber auch für seine Frau und Kinder, nur entweder ignoriert oder transzendiert.
Monde vor der Landung ist damit nicht nur eine psychologisch und biographisch interessante Lebensgeschichte und ein spannendes und – wie es in bisherigen Rezensionen unablässig betont worden ist – sehr genau recherchiertes Zeitbild der Verschwörungstheorien der Zwischenkriegszeit, sondern darüber hinaus ein spannender Versuch, den Begriff und die Vorstellung vom realistischen Roman in der Gegenwartsliteratur zu verkomplizieren. Setz’ Art zu Schreiben zeichnet sich in diesem Roman insbesondere dadurch aus, dass alles, vom Satzbau bis zu Wortwahl und Metaphorik, sowohl als Beschreibung als auch als Ausdruck von Benders Leben gelesen werden kann und darin unbestreitbar innovativ und eindrucksvoll ist.
Theresa Mayer, Frankfurt a. M.