Zum Buch:
Familiengeschichten, Rückblicke auf die Kindheit, die Eltern, Geschwister, verwoben in die Zeitgeschichte – das hat Konjunktur und ist nicht immer unbedingt lesenswert. Aber wenn es gelingt, weisen diese privaten Geschichten über das Persönliche hinaus und sind nicht nur für Leser interessant, die an Biographischem Gefallen finden. „Die Lieben meiner Mutter“ ist so ein Buch.
Schneider erzählt die Geschichte seiner Mutter anhand der erhalten gebliebenen Briefe nach, die sie an den Ehemann, den Geliebten, die Schwiegermutter und eine Freundin schrieb. Von heute betrachtet ist es kaum zu ertragen, was man da über eine Frau liest, die offensichtlich alles, was sie tut, mit unbedingter Leidenschaft und Hingabe tut. Die gegen den Willen des Vaters früh heiratet und relativ dicht nacheinander vier Kinder bekommt. Die bereit ist, sich um der Karriere ihres Mannes willen selbst zurückzunehmen und in der überwiegenden Zeit ihrer Ehe die Kinder alleine ernährt und großzieht. Bei Kriegsende flieht sie mit ihren Kindern, nur auf sich gestellt, vor der russischen Armee von Königsberg nach Bayern. Dort stirbt sie ein paar Jahre später mit grade 41 Jahren, vermutlich an Erschöpfung. Eine entsagungsvolle Ehefrau? Ein aufopferungswütiges Muttertier? Falsch. Diese Frau hat während ihrer gesamten Ehe leidenschaftliche Beziehungen zu anderen Männern, besonders zu einem engen Freund ihres Mannes. Und sie verheimlicht diese Beziehungen nicht, ihre Briefe geben Zeugnis davon.
Parallel zur Rekonstruktion des Lebens der Mutter erinnert Schneider sich an Willi, einen älteren Jungen aus dem bayerischen Dorf. Er ist ein begnadeter Verführer, der dem Kind und, wie Schneider später erfährt, auch dessen Schwester weismacht, mit dem Erzengel Michael im Bunde zu sein. Der Engel würde ihre geheimsten Wünsche erfüllen. Aber nur, wenn sie ihm – und damit Willi als Mittler – bedingungslos gehorchten. Falls nicht, werde er sie grausam strafen. Und so stehlen und lügen die Kinder für den Engel und sind für den Einfluss der Mutter unwiederbringlich verloren.
Selten hat mich ein Buch in so zwiespältige Gefühle versetzt. Noch Tage nach Beendigung der Lektüre habe ich mich an dieser Frauengestalt gerieben. Sie hat mich nicht losgelassen, mich gefesselt, ist gleichzeitig schwer auszuhalten und faszinierend. Diese totale Hingabe an einen Geliebten, an eine Liebe, die bis zur Selbstaufgabe geht. Die gnadenlose Offenheit, mit der sie zu ihrer Leidenschaft steht, auch ihrem Mann gegenüber. Das ist Selbstverleugnung und radikale Selbstbezogenheit in einem, gepaart mit einem großen Vermögen, ihren Gefühlen sprachlichen Ausdruck zu verleihen – auch wenn heute manches pathetisch anmutet. Ich frage mich, wie jüngere Frauen oder Männer diese Frauengestalt empfinden. Es ist eine der Stärken Peter Schneiders, seine durchaus auch uneindeutige Haltung als Sohn und als Mann mit in den Text zu nehmen. Und letztlich ist für mich „Die Lieben meiner Mutter“ gerade wegen all dieser Widersprüche ein spannendes, bewegendes und großartiges Buch.
Ruth Roebke autorenbuchhandlung marx & co., Frankfurt