Zum Buch:
1985 begleitet Clara ihren Bruder Jan – vor seiner Ausreise aus der DDR in den Westen – in das kleine abgelegene Dorf Machandel im Mecklenburgischen. Dort ist er bei seinen Großeltern aufgewachsen, während Clara, die Jüngere, bei den Eltern in Berlin war. Als sie in Machandel vor einer kleinen, vernachlässigten Kate stehen, steht für Clara fest: hier wird sie, zusammen mit ihrer kleinen Familie, ihre Sommer verbringen und Ruhe vor den turbulenten Entwicklungen in der Hauptstadt finden. Nach und nach wird sie erkennen, dass dieser Ort weniger einer des Vergessens als der Erkenntnis ist und wie tief ihre eigene Geschichte mit der der anderen Dorfbewohner verwoben ist.
Es gelingt Regina Scheer, in dem verwunschenen Flecken Machandel die Schicksale vieler Menschen zu bündeln und zugleich, wie in einem Brennglas, deutsche Geschichte zu erzählen, vom Nationalsozialismus bis zur Wiedervereinigung und danach. Wie in einem vielstimmigen Chor bekommt jede Person ihren eigenen Ton: Clara, die der Bürgerrechtsbewegung angehört und die nach und nach ihre persönliche Geschichte in diesem Dorf entdeckt. Ihr Vater, der in unverbrüchlicher Treue an seinem Kommunisteneid festhält und erst spät einsieht, dass er sich damit von allen lebendigen Beziehungen abgeschnitten hat. Die Ukrainerin Natalja, die als Ostarbeiterin nach Machandel gebracht wird und trotzdem nach dem Krieg dort bleibt. Der Dissident Herbert, ein Freund von Claras Bruder Jan, dessen Familie wegen ihres gesellschaftlichen Engagements von der Stasi bedroht wird. Emma, die als junge Witwe im Krieg nach dem Feuersturm aus Hamburg in das Dorf gekommen ist und ihren eigenen Schrecken zu vergessen sucht, indem sie sich um die sieben Kinder eines Witwers kümmert, der an der Front ist. Und um sie herum ein Reigen weiterer Personen: alteingesessene mecklenburgische Sturköpfe, Vertriebene, Faschisten, Kommunisten, Flüchtlinge, Untergetauchte, Kinder.
„Machandel“ erzählt von Neid und Verrat, von Widerstand und Anpassung, vom Nationalsozialismus und seinem Untergang und von der Hoffnung, mit der DDR eine gerechtere Gesellschaft aufzubauen. Davon, wie schnell auch dieser Versuch in ideologischer Starrheit und zunehmender Unterdrückung endet. Wie Menschen sich darin einrichten, daran zugrunde gehen und dagegen aufstehen. Ganz unpathetisch, mit leiser Wehmut kommt der Text daher. Regina Scheer trägt Menschenschicksale zusammen, wie das Mädchen in dem Märchen vom Machandelbaum, das in immer neu abgewandelter Form den Text durchzieht. Dies trägt die Knöchelchen seines toten Bruders zusammen und bringt sie zum Zauberbaum Machandel. Weil nur durch dieses Sammeln, Erinnern und Zusammenfügen wieder neues Leben entstehen kann.
Regina Scheer ist mit ihrem Romanerstling ein bewegendes und wunderschönes Buch gelungen.
Ruth Roebke, autorenbuchhandlungmarx&co, Frankfurt