Zum Buch:
Nicht nur diejenigen, die sich 2017 über Olga Radetzkajas Neuübersetzung von Viktor Schklowskijs Sentimentaler Reise gefreut haben, werden über Zoo. Briefe nicht über die Liebe, oder die dritte Heloise begeistert sein. Zum ersten Mal erscheint dieses ungewöhnliche Buch vollständig in deutscher Sprache. Dem Titel zum Trotz handelt es sich tatsächlich um ein Buch über die Liebe: der Liebe zu einer Frau, aber auch der zu Literatur, zu Autos und zu Russland im Berliner Exil.
In Sentimentale Reise hatte Viktor Schklowski (1893-1984) seine Zeit als Panzerwagenfahrer im Russischen Bürgerkrieg in den Jahren 1917 bis 1921 beschrieben. Als Sozialrevolutionär von den Bolschewiken verfolgt, muss er im März 1922 aus Petrograd fliehen. Nach seiner Flucht war er über Finnland im Juli 1922 nach Berlin gelangt, wo er sich nun als knapp Dreißigjähriger im Exil befand. Zoo. Briefe nicht über die Liebe, oder die dritte Heloise schließt inhaltlich an Sentimentale Reise an und erzählt von seiner Zeit in der Berliner Emigration 1923. In Berlin hielt sich zu dem Zeitpunkt auch Alja auf, eine Frau, in die der Ich-Erzähler Schklowskij unglücklich verliebt ist („Ich liebe Dich, Alja, und Du lässt mich auf dem Trittbrett Deines Lebens hängen“). Es ist die „dritte Heloise“ – zum einen natürlich reiht der Titel die Empfängerin der Briefe ein in die Reihe der berühmten literarischen Liebesbriefempfängerinnen (die mir Abaelard korrespondierende Héloïse im 12. Jahrhundert und Jean-Jacques Rousseaus „Nouvelle Héloïse“, 1761), zum anderen handelt es sich dabei um ein Anagramm des vollständigen Namens Aljas, Elsa Triolet (1896-1970). Elsa Triolet wurde später als Autorin und aktive Kommunistin bekannt. Sie zog von Berlin nach Paris, heiratete Louis Aragon und schrieb auf Französisch.
In seinem Vorwort beschreibt Schklowski, wie es zu diesem Buch gekommen ist: Er schreibt massenhaft Briefe an die Angebetete, in denen es nur um seine Liebe zu ihr geht, bis es Alja zu viel wird und sie ihm verbietet, über seine Liebe zu ihr zu schreiben. Schklowskij zufolge entstanden so also diese „Briefe nicht über die Liebe“. Statt aber über die Liebe zu schreiben, schreibt er in seinen Briefen an Alja nun über seine Einsamkeit in Berlin, über Literatur und das Verlagswesen in der Emigration und ziemlich viel über Autos („Ich liebe Autos“) – ein Thema, das er auf erstaunliche Weise als Sinnbild auf die Literatur und die Situation eines Russen im Berliner Exil überträgt. Alja weist ihn ab – aber das ist nicht der einzige Grund, warum er sich in Berlin fremd fühlt. Das Deutsche lässt ihn das Russische vermissen, und ihm fehlt der Anschluss an den russischsprachigen Literatur- und Kulturbetrieb. Sein letzter Brief ist deshalb nicht an Alja gerichtet, sondern an das Gesamtrussische Zentrale Exekutivkomittee, in dem er um die Erlaubnis für seine Rückkehr nach Russland bittet. Nachdem sich Maksim Gorki und Wladimir Majakowski für ihn eingesetzt haben, kehrt er 1923 nach Moskau zurück.
Bekannt ist Viktor Schklowski – neben Boris Eichenbaum, Juri Tynjanow und Roman Jakobson – als Mitglied der „Gesellschaft zum Studium der poetischen Sprache“ (OPOJAS), aus der die Formale Schule hervorging. Schklowskis Aufsatz „Kunst als Verfahren“ (1916) mit dem einprägsamen Satz, die Kunst mache den „Stein steinern“ und dem Begriff der Verfremdung ist in jeder Geschichte der Literaturtheorie vertreten und inspiriert wie ehedem. Schklowskis belletristische Schriften hingegen sind weniger bekannt. Das hat, so Olga Radetzkaja in ihrem erhellenden Nachwort zur neuen Übersetzung, nicht zuletzt auch mit der schwierigen Überlieferungsgeschichte zu tun. Lange wurde Zoo. Briefe nicht über die Liebe, oder die dritte Heloise nicht vollständig gedruckt. Einige Teile, die das Gesamtbild des Textes nun ergänzen und tatsächlich auch verändern, waren der sowjetischen Zensur und Schklowskis Selbstzensur zum Opfer gefallen. Zum einen machte das Fehlen von Jahreszahlen, Eigennamen und Aljas Briefen das Buch zu einem vergnüglichen, fiktionalen Roman. Zum anderen fehlte das Ende, in dem es um die blutigen Praktiken der zaristischen Armee während des Ersten Weltkrieges 1916 in Erzurum geht, wo türkische Soldaten, die sich bereits ergeben hatten, auf brutale Art und Weise getötet wurden. Die vorliegende Übersetzung basiert nun auf dem Originaltext von 1923 und versucht, das Spannungsreiche, Ambivalente, Rauhe des Originaltexts wiederzugeben. Zusammen mit einer Editionsgeschichte des Buchs entwirrt sie das Durcheinander der Ausgaben und nimmt verschiedene Varianten des Vorworts und die Briefe, die bislang nicht abgedruckt worden waren, mit auf. Der ausführliche und sehr hilfreiche Kommentarteil, der Namen, Orte und historische Begebenheiten klärt, Olga Radetzkajas kontextualisierendes Nachwort und ein Essay von Marcel Beyer rahmen den Text.
Die formalistische Literaturtheorie findet auf unterhaltsame und pragmatische Weise Eingang in das Buch. Das beginnt schon mit Schklowskis Vorwort, in dem er seine Verliebtheit leugnet und sie als reinen Schreibanlass, als Methode, ausgibt. Die Briefform ist, so Schklowskij, ein Versuch, die Romanform hinter sich zu lassen. Man könne einfach nicht mehr so schreiben wie früher, Themen und Verfahren nützten sich mit der Zeit ab und müssten ersetzt werden: „Aber ich würde am liebsten so schreiben, als hätte es nie eine Literatur gegeben. Zum Beispiel schriebe ich gern ‚Herrlich ist der Dnjepr bei heiterem Wetter‘. Ich kann es nicht, die Ironie frisst die Wörter auf.“ Die Literatur müsse sich dem Neuen zuwenden und deshalb sei nun das Private – wie seine „Briefe nicht über die Liebe“ – in die Literatur aufgenommen. Zugleich beeinflusse aber die literarische Form auch das Private. Eine ganz und gar unabgenutzte und frische Sprache ist es dann, die die Lektüre der Briefe so überraschend und erfreulich macht. Da sind etwa der Dialog zwischen dem Hochwasser und Aljas Stiefeletten und Berichte über das sehr menschliche Verhalten von Autos zu lesen, Autos mit Elektromotoren werden bemitleidet und Schklowskis Verlorenheit in der Emigration wird mit Elektroautos verglichen („wir wurden in Russland aufgeladen, hier fahren wir nur wieder und wieder im Kreis und bleiben bald stehen“). Sogar die Oktoberrevolution und alle Verbrechen werden auf die Autos zurückführt: „Wir brauchen eine neue Romantik, damit die Autos die Menschen nicht in der Kurve aus dem Leben werfen.“ Dass Schklowski in einer brutalen Zeit mit brutalen Menschen lebt, tritt dennoch deutlich aus jeder Seite des Buchs hervor. Schklowski verharmlost nicht, er versucht den Schrecken des Kriegs in der Sprache beizukommen. Wie sich auf diese Weise dann formalistische Theorie mit Schreib- und Lebenspraxis verbindet, das ist über die Maßen lesenswert!
Alena Heinritz, Innsbruck