Zum Buch:
Eine Liebe, ein Krieg. Wolodja und Sascha haben sich kaum verliebt, da muss Wolodja schon zum Militär. Und das einzige, was den beiden bleibt, sind Briefe. Es sind wunderbare Briefe, die sich die beiden da schreiben: über ihre Liebe, die gemeinsam verbrachte Zeit, die Kindheit, die Eltern, das Essen, die Natur. Und natürlich schreibt Wolodja über sein Leben bei der Armee: die Langeweile, den Drill, seine Arbeit als Schreiber. Dazu gehört auch, den Angehörigen Mitteilung vom Tod der Soldaten zu machen, und dafür gibt es sehr genaue Anweisungen. Nie darf gesagt werden, was wirklich geschah: ein Unfall, „freundliches Feuer“, grässliches Sterben. Für all das gibt es vorgeschriebene Leerformeln, die angeblich Trost spenden sollen. Und ganz plötzlich muss ein solcher Brief auch Sascha und Wolodjas Mutter erreicht haben, denn die schreien ihren Schmerz über seinen Tod förmlich heraus. Und doch schreibt Sascha weiter, und auch Wolodja schreibt weiterhin seine Briefe. Aber langsam, fast unmerklich, verweisen die Briefe der beiden auf eine immer größer werdende zeitliche Kluft. Sascha wird älter, heiratet, verliert ein Kind, muss erleben, wie auch das Kind ihres Mannes stirbt, arbeitet in einer Abtreibungsklinik. Wolodja schreibt weiterhin vom Krieg, aber auch der nie genau bezeichnete Krieg, in den er gezogen ist, rückt weiter weg in die Vergangenheit und erweist sich schließlich als der historische Boxerkrieg, der im Frühjahr und Sommer 1900 zwischen China auf der einen und den USA, Russland, Deutschland und fünf weiteren Staaten mit unerbittlicher Härte und Grausamkeit geführt wird. Schischkin gelingt es, diese Distanz fast unbemerkt einzuführen; man wundert sich beim Lesen ein wenig, nimmt diese zeitliche Verschiebung aber bald als dichterische Freiheit ganz selbstverständlich hin, genauso wie die Tatsache, dass ein Toter Briefe schreibt. Gebannt folgt man den jetzt einzeln nebeneinander her laufenden Erzählungen vom Krieg und vom scheinbaren Frieden, und erlebt am Ende, wie die getrennten Zeiten wieder zusammenrücken, sich durch die Erinnerungen und die Liebe wieder zu einem festen Strang verknüpfen, jenseits von Tod und Trennung.
Michail Schischkin hat einen wunderbaren, großen Roman über die Macht der Liebe und der Wörter geschrieben, der ganz durch seine unglaublich schöne – und von Andreas Tretner meisterhaft ins Deutsche übertragene – Sprache lebt. „Briefsteller“ ist das beste Beispiel dafür, dass Literatur alle technischen Neuerungen überleben und nie vor der Macht der visuellen Medien kapitulieren wird. Ein Buch, das mit Sicherheit niemals verfilmt wird – ein größeres Kompliment kann man manchmal gar nicht machen!
Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main