Zum Buch:
Der Ich-Erzähler dieses Buches trägt zu Beginn des Romans keinen Namen. Seine gewaltsame und traumatisierende Kindheit hat er, genau wie sein Heimatdorf, hinter sich gelassen. Seine Tage verschwimmen im tristen und entbehrungsreichen Nachkriegsalltag. Doch dann taucht eine seltsame Frau vor seinem Haus auf und wartet auf ihn. Wartet dort, wartet vor seinem Büro, begegnet ihm, wo immer er auch hingeht. Bis er sie eines Tages anspricht. Sie hat ein Angebot, einen Plan, eine neue Geschichte und einen neuen Namen für ihn. Polat Kaplan. Der Name ihres Sohnes, der nie aus dem Krieg zurückgekehrt ist. Aus dieser Grundkonstellation entwickelt die junge Autorin eine Art Kammerspiel-Roman.
Kunstvoll webt sie dabei die verschiedenen Ebenen der gespielten Realitäten ineinander. Überraschenderweise bleiben die Szenen dabei in der Regel völlig präzise. Hierin spürt man die Erfahrung der Autorin im Bereich Film und Bildende Kunst. Der Blick der Leserin wird klar gelenkt. Was zu sehen ist, wird in keinem Augenblick dem Zufall überlassen. Die von Frau Kaplan und ihrem neuen Sohn inszenierte neue Wirklichkeit funktioniert absolut eindeutig nach ihren eigenen Regeln. Wird ihr Publikum ihnen glauben? Ist auch sein Wille nach einer neuen Erzählung groß genug? Und zuletzt: Kann man sein Leben zurücklassen und in ein neues eintreten? Wann werden die Geister aus der Vergangenheit in diese neue Geschichtsschreibung einbrechen?
Sahins Stil ist reduziert und voller Brutalität. Ihr Roman aus einer tristen Nachkriegszeit, die nicht verortet wird, aber an den Jugoslawienkrieg denken lässt, hält für seine Figuren keinen Trost bereit. Das einzig Strahlende in diesem Roman ist der unbedingte und ungebrochene Wille nach einer neuen Erzählung und einem neuen Wiederanfang. Die eigentliche Protagonistin dieses Buches, Frau Kaplan – Mutter, Autorin und Regisseurin ihrer eigenen Wirklichkeit ¬– ist in ihrem Kampfgeist und Machthunger dabei absolut faszinierend.
Ein ebenso ungewöhnlicher wie lesenswerter Roman über die Notwendigkeit und Gefahr der Vorstellung, man könne Autor*in seiner eigenen Geschichte sein.
Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt